"Aber alles, was er produciren mag, gelingt ihm, und man kann wirklich sagen, daß sich bey ihm die Inspiration an die Stelle der Reflexion setzt. Er mußte immer dichten! und da war denn alles, was vom Menschen, besonders vom Herzen ausging, vortrefflich. Zu seinen Sachen kam er, wie die Weiber zu schönen Kindern; sie denken nicht daran und wissen nicht wie."
"Er ist ein großes Talent, ein geborenes, und die eigentlich poetische Kraft ist mir bey niemanden größer vorgekommen als bey ihm. In Auffassung des Äußern und klarem Durchblick vergangener Zustände ist er eben so groß als Shakspeare. Aber Shakspeare ist als reines Individuum überwiegend. Dieses fühlte Byron sehr wohl, deßhalb spricht er vom Shakspeare nicht viel, obgleich er ganze Stellen von ihm auswendig weiß. Er hätte ihn gern verläugnet, denn Shakspeare's Hei¬ terkeit ist ihm im Wege; er fühlt, daß er nicht dagegen aufkann. Pope verläugnet er nicht, weil er ihn nicht zu fürchten hatte. Er nennt und achtet ihn vielmehr wo er kann, denn er weiß sehr wohl, daß Pope nur eine Wand gegen ihn ist."
Goethe schien über Byron unerschöpflich, und ich konnte nicht satt werden, ihm zuzuhören. Nach einigen kleinen Zwischengesprächen fuhr er fort:
"Der hohe Stand als englischer Pär war Byron sehr nachtheilig; denn jedes Talent ist durch die Außen¬ welt genirt, geschweige eins bey so hoher Geburt und
„Aber alles, was er produciren mag, gelingt ihm, und man kann wirklich ſagen, daß ſich bey ihm die Inſpiration an die Stelle der Reflexion ſetzt. Er mußte immer dichten! und da war denn alles, was vom Menſchen, beſonders vom Herzen ausging, vortrefflich. Zu ſeinen Sachen kam er, wie die Weiber zu ſchoͤnen Kindern; ſie denken nicht daran und wiſſen nicht wie.“
„Er iſt ein großes Talent, ein geborenes, und die eigentlich poetiſche Kraft iſt mir bey niemanden groͤßer vorgekommen als bey ihm. In Auffaſſung des Äußern und klarem Durchblick vergangener Zuſtaͤnde iſt er eben ſo groß als Shakſpeare. Aber Shakſpeare iſt als reines Individuum uͤberwiegend. Dieſes fuͤhlte Byron ſehr wohl, deßhalb ſpricht er vom Shakſpeare nicht viel, obgleich er ganze Stellen von ihm auswendig weiß. Er haͤtte ihn gern verlaͤugnet, denn Shakſpeare's Hei¬ terkeit iſt ihm im Wege; er fuͤhlt, daß er nicht dagegen aufkann. Pope verlaͤugnet er nicht, weil er ihn nicht zu fuͤrchten hatte. Er nennt und achtet ihn vielmehr wo er kann, denn er weiß ſehr wohl, daß Pope nur eine Wand gegen ihn iſt.“
Goethe ſchien uͤber Byron unerſchoͤpflich, und ich konnte nicht ſatt werden, ihm zuzuhoͤren. Nach einigen kleinen Zwiſchengeſpraͤchen fuhr er fort:
„Der hohe Stand als engliſcher Paͤr war Byron ſehr nachtheilig; denn jedes Talent iſt durch die Außen¬ welt genirt, geſchweige eins bey ſo hoher Geburt und
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„Aber alles, was er produciren mag, gelingt ihm,
und man kann wirklich ſagen, daß ſich bey ihm die
Inſpiration an die Stelle der Reflexion ſetzt. Er mußte
immer dichten! und da war denn alles, was vom
Menſchen, beſonders vom Herzen ausging, vortrefflich.
Zu ſeinen Sachen kam er, wie die Weiber zu ſchoͤnen
Kindern; ſie denken nicht daran und wiſſen nicht wie.“
„Er iſt ein großes Talent, ein geborenes, und
die eigentlich poetiſche Kraft iſt mir bey niemanden
groͤßer vorgekommen als bey ihm. In Auffaſſung des
Äußern und klarem Durchblick vergangener Zuſtaͤnde iſt
er eben ſo groß als Shakſpeare. Aber Shakſpeare iſt als
reines Individuum uͤberwiegend. Dieſes fuͤhlte Byron
ſehr wohl, deßhalb ſpricht er vom Shakſpeare nicht
viel, obgleich er ganze Stellen von ihm auswendig weiß.
Er haͤtte ihn gern verlaͤugnet, denn Shakſpeare's Hei¬
terkeit iſt ihm im Wege; er fuͤhlt, daß er nicht dagegen
aufkann. Pope verlaͤugnet er nicht, weil er ihn nicht
zu fuͤrchten hatte. Er nennt und achtet ihn vielmehr
wo er kann, denn er weiß ſehr wohl, daß Pope nur
eine Wand gegen ihn iſt.“
Goethe ſchien uͤber Byron unerſchoͤpflich, und ich
konnte nicht ſatt werden, ihm zuzuhoͤren. Nach einigen
kleinen Zwiſchengeſpraͤchen fuhr er fort:
„Der hohe Stand als engliſcher Paͤr war Byron
ſehr nachtheilig; denn jedes Talent iſt durch die Außen¬
welt genirt, geſchweige eins bey ſo hoher Geburt und
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/225>, abgerufen am 21.11.2024.
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