"Das Unglück ist, sagte Goethe, im Staat, daß niemand leben und genießen, sondern jeder regieren, und in der Kunst, daß niemand sich des Hervorgebrachten freuen, sondern jeder seinerseits selbst wieder produciren will."
"Auch denkt niemand daran, sich von einem Werk der Poesie auf seinem eigenen Wege fördern zu lassen, sondern jeder will sogleich wieder dasselbige machen."
"Es ist ferner kein Ernst da, der ins Ganze geht, kein Sinn dem Ganzen etwas zu Liebe zu thun, son¬ dern man trachtet nur, wie man sein eigenes Selbst bemerklich mache und es vor der Welt zu möglichster Evidenz bringe. -- Dieses falsche Bestreben zeigt sich überall, und man thut es den neuesten Virtuosen nach, die nicht sowohl solche Stücke zu ihrem Vortrage wäh¬ len, woran die Zuhörer reinen musikalischen Genuß ha¬ ben, als vielmehr solche, worin der Spielende seine er¬ langte Fertigkeit könne bewundern lassen. Überall ist es das Individuum, das sich herrlich zeigen will, und nirgends trifft man auf ein redliches Streben, das dem Ganzen und der Sache zu Liebe sein eigenes Selbst zurücksetzte."
"Hiezu kommt sodann, daß die Menschen in ein pfuscherhaftes Produciren hineinkommen, ohne es selbst zu wissen. Die Kinder machen schon Verse und gehen so fort und meinen als Jünglinge, sie könnten was, bis sie zuletzt als Männer zur Einsicht des Vortrefflichen
I. 14
„Das Ungluͤck iſt, ſagte Goethe, im Staat, daß niemand leben und genießen, ſondern jeder regieren, und in der Kunſt, daß niemand ſich des Hervorgebrachten freuen, ſondern jeder ſeinerſeits ſelbſt wieder produciren will.“
„Auch denkt niemand daran, ſich von einem Werk der Poeſie auf ſeinem eigenen Wege foͤrdern zu laſſen, ſondern jeder will ſogleich wieder daſſelbige machen.“
„Es iſt ferner kein Ernſt da, der ins Ganze geht, kein Sinn dem Ganzen etwas zu Liebe zu thun, ſon¬ dern man trachtet nur, wie man ſein eigenes Selbſt bemerklich mache und es vor der Welt zu moͤglichſter Evidenz bringe. — Dieſes falſche Beſtreben zeigt ſich uͤberall, und man thut es den neueſten Virtuoſen nach, die nicht ſowohl ſolche Stuͤcke zu ihrem Vortrage waͤh¬ len, woran die Zuhoͤrer reinen muſikaliſchen Genuß ha¬ ben, als vielmehr ſolche, worin der Spielende ſeine er¬ langte Fertigkeit koͤnne bewundern laſſen. Überall iſt es das Individuum, das ſich herrlich zeigen will, und nirgends trifft man auf ein redliches Streben, das dem Ganzen und der Sache zu Liebe ſein eigenes Selbſt zuruͤckſetzte.“
„Hiezu kommt ſodann, daß die Menſchen in ein pfuſcherhaftes Produciren hineinkommen, ohne es ſelbſt zu wiſſen. Die Kinder machen ſchon Verſe und gehen ſo fort und meinen als Juͤnglinge, ſie koͤnnten was, bis ſie zuletzt als Maͤnner zur Einſicht des Vortrefflichen
I. 14
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„Das Ungluͤck iſt, ſagte Goethe, im Staat, daß
niemand leben und genießen, ſondern jeder regieren, und
in der Kunſt, daß niemand ſich des Hervorgebrachten
freuen, ſondern jeder ſeinerſeits ſelbſt wieder produciren
will.“
„Auch denkt niemand daran, ſich von einem Werk
der Poeſie auf ſeinem eigenen Wege foͤrdern zu laſſen,
ſondern jeder will ſogleich wieder daſſelbige machen.“
„Es iſt ferner kein Ernſt da, der ins Ganze geht,
kein Sinn dem Ganzen etwas zu Liebe zu thun, ſon¬
dern man trachtet nur, wie man ſein eigenes Selbſt
bemerklich mache und es vor der Welt zu moͤglichſter
Evidenz bringe. — Dieſes falſche Beſtreben zeigt ſich
uͤberall, und man thut es den neueſten Virtuoſen nach,
die nicht ſowohl ſolche Stuͤcke zu ihrem Vortrage waͤh¬
len, woran die Zuhoͤrer reinen muſikaliſchen Genuß ha¬
ben, als vielmehr ſolche, worin der Spielende ſeine er¬
langte Fertigkeit koͤnne bewundern laſſen. Überall iſt
es das Individuum, das ſich herrlich zeigen will, und
nirgends trifft man auf ein redliches Streben, das dem
Ganzen und der Sache zu Liebe ſein eigenes Selbſt
zuruͤckſetzte.“
„Hiezu kommt ſodann, daß die Menſchen in ein
pfuſcherhaftes Produciren hineinkommen, ohne es ſelbſt
zu wiſſen. Die Kinder machen ſchon Verſe und gehen
ſo fort und meinen als Juͤnglinge, ſie koͤnnten was,
bis ſie zuletzt als Maͤnner zur Einſicht des Vortrefflichen
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/229>, abgerufen am 21.11.2024.
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