Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

die Welt käme und er die poetischen und wissenschaft¬
lichen Bestrebungen seiner Nation bereits auf der Höhe
vorfände, auf welche sie jetzt, und zwar größtentheils
durch ihn, gebracht sind, er sodann sicher zu so mannig¬
faltigen Richtungen keine Veranlassung finden und sich
gewiß auf ein einziges Fach beschränken würde.

So aber lag es nicht allein in seiner Natur, nach
allen Seiten hin zu forschen und sich über die irdischen
Dinge klar zu machen; sondern es lag auch im Be¬
dürfniß der Zeit, das Wahrgenommene auszusprechen.

Er that bey seinem Erscheinen zwey große Erb¬
schaften: der Irrthum und die Unzulänglichkeit
fielen ihm zu daß er sie hinwegräume, und verlangten
seine lebenslänglichen Bemühungen nach vielen Seiten.

Wäre die Newtonische Theorie Goethen nicht als
ein großer dem menschlichen Geiste höchst schädlicher
Irrthum erschienen, glaubt man denn, daß es ihm je
eingefallen seyn würde, eine Farbenlehre zu schreiben und
vieljährige Bemühungen einer solchen Nebenrichtung zu
widmen? Keineswegs! Sondern sein Wahrheitsgefühl
im Conflict mit dem Irrthum war es, das ihn bewog,
sein reines Licht auch in diese Dunkelheiten leuchten zu
lassen.

Ein Gleiches ist von seiner Metamorphosenlehre zu
sagen, worin wir ihm jetzt ein Muster wissenschaftlicher
Behandlung verdanken; welches Werk zu schreiben Goe¬
then aber gewiß nie eingefallen seyn würde, wenn er

die Welt kaͤme und er die poetiſchen und wiſſenſchaft¬
lichen Beſtrebungen ſeiner Nation bereits auf der Hoͤhe
vorfaͤnde, auf welche ſie jetzt, und zwar groͤßtentheils
durch ihn, gebracht ſind, er ſodann ſicher zu ſo mannig¬
faltigen Richtungen keine Veranlaſſung finden und ſich
gewiß auf ein einziges Fach beſchraͤnken wuͤrde.

So aber lag es nicht allein in ſeiner Natur, nach
allen Seiten hin zu forſchen und ſich uͤber die irdiſchen
Dinge klar zu machen; ſondern es lag auch im Be¬
duͤrfniß der Zeit, das Wahrgenommene auszuſprechen.

Er that bey ſeinem Erſcheinen zwey große Erb¬
ſchaften: der Irrthum und die Unzulaͤnglichkeit
fielen ihm zu daß er ſie hinwegraͤume, und verlangten
ſeine lebenslaͤnglichen Bemuͤhungen nach vielen Seiten.

Waͤre die Newtoniſche Theorie Goethen nicht als
ein großer dem menſchlichen Geiſte hoͤchſt ſchaͤdlicher
Irrthum erſchienen, glaubt man denn, daß es ihm je
eingefallen ſeyn wuͤrde, eine Farbenlehre zu ſchreiben und
vieljaͤhrige Bemuͤhungen einer ſolchen Nebenrichtung zu
widmen? Keineswegs! Sondern ſein Wahrheitsgefuͤhl
im Conflict mit dem Irrthum war es, das ihn bewog,
ſein reines Licht auch in dieſe Dunkelheiten leuchten zu
laſſen.

Ein Gleiches iſt von ſeiner Metamorphoſenlehre zu
ſagen, worin wir ihm jetzt ein Muſter wiſſenſchaftlicher
Behandlung verdanken; welches Werk zu ſchreiben Goe¬
then aber gewiß nie eingefallen ſeyn wuͤrde, wenn er

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0236" n="216"/>
die Welt ka&#x0364;me und er die poeti&#x017F;chen und wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft¬<lb/>
lichen Be&#x017F;trebungen &#x017F;einer Nation bereits auf der Ho&#x0364;he<lb/>
vorfa&#x0364;nde, auf welche &#x017F;ie jetzt, und zwar gro&#x0364;ßtentheils<lb/>
durch ihn, gebracht &#x017F;ind, er &#x017F;odann &#x017F;icher zu &#x017F;o mannig¬<lb/>
faltigen Richtungen keine Veranla&#x017F;&#x017F;ung finden und &#x017F;ich<lb/>
gewiß auf ein einziges Fach be&#x017F;chra&#x0364;nken wu&#x0364;rde.</p><lb/>
          <p>So aber lag es nicht allein in &#x017F;einer Natur, nach<lb/>
allen Seiten hin zu for&#x017F;chen und &#x017F;ich u&#x0364;ber die irdi&#x017F;chen<lb/>
Dinge klar zu machen; &#x017F;ondern es lag auch im Be¬<lb/>
du&#x0364;rfniß der Zeit, das Wahrgenommene auszu&#x017F;prechen.</p><lb/>
          <p>Er that bey &#x017F;einem Er&#x017F;cheinen zwey große Erb¬<lb/>
&#x017F;chaften: der <hi rendition="#g">Irrthum</hi> und die <hi rendition="#g">Unzula&#x0364;nglichkeit</hi><lb/>
fielen ihm zu daß er &#x017F;ie hinwegra&#x0364;ume, und verlangten<lb/>
&#x017F;eine lebensla&#x0364;nglichen Bemu&#x0364;hungen nach vielen Seiten.</p><lb/>
          <p>Wa&#x0364;re die Newtoni&#x017F;che Theorie Goethen nicht als<lb/>
ein großer dem men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;te ho&#x0364;ch&#x017F;t &#x017F;cha&#x0364;dlicher<lb/>
Irrthum er&#x017F;chienen, glaubt man denn, daß es ihm je<lb/>
eingefallen &#x017F;eyn wu&#x0364;rde, eine Farbenlehre zu &#x017F;chreiben und<lb/>
vielja&#x0364;hrige Bemu&#x0364;hungen einer &#x017F;olchen Nebenrichtung zu<lb/>
widmen? Keineswegs! Sondern &#x017F;ein Wahrheitsgefu&#x0364;hl<lb/>
im Conflict mit dem Irrthum war es, das ihn bewog,<lb/>
&#x017F;ein reines Licht auch in die&#x017F;e Dunkelheiten leuchten zu<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Ein Gleiches i&#x017F;t von &#x017F;einer Metamorpho&#x017F;enlehre zu<lb/>
&#x017F;agen, worin wir ihm jetzt ein Mu&#x017F;ter wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlicher<lb/>
Behandlung verdanken; welches Werk zu &#x017F;chreiben Goe¬<lb/>
then aber gewiß nie eingefallen &#x017F;eyn wu&#x0364;rde, wenn er<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[216/0236] die Welt kaͤme und er die poetiſchen und wiſſenſchaft¬ lichen Beſtrebungen ſeiner Nation bereits auf der Hoͤhe vorfaͤnde, auf welche ſie jetzt, und zwar groͤßtentheils durch ihn, gebracht ſind, er ſodann ſicher zu ſo mannig¬ faltigen Richtungen keine Veranlaſſung finden und ſich gewiß auf ein einziges Fach beſchraͤnken wuͤrde. So aber lag es nicht allein in ſeiner Natur, nach allen Seiten hin zu forſchen und ſich uͤber die irdiſchen Dinge klar zu machen; ſondern es lag auch im Be¬ duͤrfniß der Zeit, das Wahrgenommene auszuſprechen. Er that bey ſeinem Erſcheinen zwey große Erb¬ ſchaften: der Irrthum und die Unzulaͤnglichkeit fielen ihm zu daß er ſie hinwegraͤume, und verlangten ſeine lebenslaͤnglichen Bemuͤhungen nach vielen Seiten. Waͤre die Newtoniſche Theorie Goethen nicht als ein großer dem menſchlichen Geiſte hoͤchſt ſchaͤdlicher Irrthum erſchienen, glaubt man denn, daß es ihm je eingefallen ſeyn wuͤrde, eine Farbenlehre zu ſchreiben und vieljaͤhrige Bemuͤhungen einer ſolchen Nebenrichtung zu widmen? Keineswegs! Sondern ſein Wahrheitsgefuͤhl im Conflict mit dem Irrthum war es, das ihn bewog, ſein reines Licht auch in dieſe Dunkelheiten leuchten zu laſſen. Ein Gleiches iſt von ſeiner Metamorphoſenlehre zu ſagen, worin wir ihm jetzt ein Muſter wiſſenſchaftlicher Behandlung verdanken; welches Werk zu ſchreiben Goe¬ then aber gewiß nie eingefallen ſeyn wuͤrde, wenn er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/236
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/236>, abgerufen am 24.11.2024.