Ich erzählte Goethen nach Tisch, daß ich eine Ent¬ deckung gemacht, die mir viele Freude gewähre. Ich hätte nämlich an einer brennenden Wachskerze bemerkt, daß der durchsichtige untere Theil der Flamme dasselbe Phänomen zeige, als wodurch der blaue Himmel ent¬ stehe, indem nämlich die Finsterniß durch ein erleuchte¬ tes Trübe gesehen werde.
Ich fragte Goethe, ob er dieses Phänomen der Kerze kenne und in seiner Farbenlehre aufgenommen habe. "Ohne Zweifel", sagte er. Er nahm einen Band der Farbenlehre herunter und las mir die Paragraphen, wo ich denn alles beschrieben fand, wie ich es gesehen. "Es ist mir sehr lieb, sagte er, daß Ihnen dieses Phä¬ nomen aufgegangen ist, ohne es aus meiner Farbenlehre zu kennen; denn nun haben Sie es begriffen und kön¬ nen sagen, daß Sie es besitzen. Auch haben Sie da¬ durch einen Standpunct gefaßt, von welchem aus Sie zu den übrigen Phänomenen weiter gehen werden. Ich will Ihnen jetzt sogleich ein neues zeigen."
Es mochte etwa vier Uhr seyn; es war ein bedeckter Himmel und im ersten Anfangen der Dämmerung. Goethe zündete ein Licht an und ging damit in die Nähe des Fensters zu einem Tische. Er setzte das Licht auf einen weißen Bogen Papier und stellte ein Stäb¬
Mittwoch den 20. December 1826.
Ich erzaͤhlte Goethen nach Tiſch, daß ich eine Ent¬ deckung gemacht, die mir viele Freude gewaͤhre. Ich haͤtte naͤmlich an einer brennenden Wachskerze bemerkt, daß der durchſichtige untere Theil der Flamme daſſelbe Phaͤnomen zeige, als wodurch der blaue Himmel ent¬ ſtehe, indem naͤmlich die Finſterniß durch ein erleuchte¬ tes Truͤbe geſehen werde.
Ich fragte Goethe, ob er dieſes Phaͤnomen der Kerze kenne und in ſeiner Farbenlehre aufgenommen habe. „Ohne Zweifel“, ſagte er. Er nahm einen Band der Farbenlehre herunter und las mir die Paragraphen, wo ich denn alles beſchrieben fand, wie ich es geſehen. „Es iſt mir ſehr lieb, ſagte er, daß Ihnen dieſes Phaͤ¬ nomen aufgegangen iſt, ohne es aus meiner Farbenlehre zu kennen; denn nun haben Sie es begriffen und koͤn¬ nen ſagen, daß Sie es beſitzen. Auch haben Sie da¬ durch einen Standpunct gefaßt, von welchem aus Sie zu den uͤbrigen Phaͤnomenen weiter gehen werden. Ich will Ihnen jetzt ſogleich ein neues zeigen.“
Es mochte etwa vier Uhr ſeyn; es war ein bedeckter Himmel und im erſten Anfangen der Daͤmmerung. Goethe zuͤndete ein Licht an und ging damit in die Naͤhe des Fenſters zu einem Tiſche. Er ſetzte das Licht auf einen weißen Bogen Papier und ſtellte ein Staͤb¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0284"n="264"/></div><divn="2"><datelinerendition="#right">Mittwoch den 20. December 1826.<lb/></dateline><p>Ich erzaͤhlte Goethen nach Tiſch, daß ich eine Ent¬<lb/>
deckung gemacht, die mir viele Freude gewaͤhre. Ich<lb/>
haͤtte naͤmlich an einer brennenden Wachskerze bemerkt,<lb/>
daß der durchſichtige untere Theil der Flamme daſſelbe<lb/>
Phaͤnomen zeige, als wodurch der blaue Himmel ent¬<lb/>ſtehe, indem naͤmlich die Finſterniß durch ein erleuchte¬<lb/>
tes Truͤbe geſehen werde.</p><lb/><p>Ich fragte Goethe, ob er dieſes Phaͤnomen der Kerze<lb/>
kenne und in ſeiner Farbenlehre aufgenommen habe.<lb/>„Ohne Zweifel“, ſagte er. Er nahm einen Band der<lb/>
Farbenlehre herunter und las mir die Paragraphen, wo<lb/>
ich denn alles beſchrieben fand, wie ich es geſehen.<lb/>„Es iſt mir ſehr lieb, ſagte er, daß Ihnen dieſes Phaͤ¬<lb/>
nomen aufgegangen iſt, ohne es aus meiner Farbenlehre<lb/>
zu kennen; denn nun haben Sie es begriffen und koͤn¬<lb/>
nen ſagen, daß Sie es beſitzen. Auch haben Sie da¬<lb/>
durch einen Standpunct gefaßt, von welchem aus Sie<lb/>
zu den uͤbrigen Phaͤnomenen weiter gehen werden. Ich<lb/>
will Ihnen jetzt ſogleich ein neues zeigen.“</p><lb/><p>Es mochte etwa vier Uhr ſeyn; es war ein bedeckter<lb/>
Himmel und im erſten Anfangen der Daͤmmerung.<lb/>
Goethe zuͤndete ein Licht an und ging damit in die<lb/>
Naͤhe des Fenſters zu einem Tiſche. Er ſetzte das Licht<lb/>
auf einen weißen Bogen Papier und ſtellte ein Staͤb¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[264/0284]
Mittwoch den 20. December 1826.
Ich erzaͤhlte Goethen nach Tiſch, daß ich eine Ent¬
deckung gemacht, die mir viele Freude gewaͤhre. Ich
haͤtte naͤmlich an einer brennenden Wachskerze bemerkt,
daß der durchſichtige untere Theil der Flamme daſſelbe
Phaͤnomen zeige, als wodurch der blaue Himmel ent¬
ſtehe, indem naͤmlich die Finſterniß durch ein erleuchte¬
tes Truͤbe geſehen werde.
Ich fragte Goethe, ob er dieſes Phaͤnomen der Kerze
kenne und in ſeiner Farbenlehre aufgenommen habe.
„Ohne Zweifel“, ſagte er. Er nahm einen Band der
Farbenlehre herunter und las mir die Paragraphen, wo
ich denn alles beſchrieben fand, wie ich es geſehen.
„Es iſt mir ſehr lieb, ſagte er, daß Ihnen dieſes Phaͤ¬
nomen aufgegangen iſt, ohne es aus meiner Farbenlehre
zu kennen; denn nun haben Sie es begriffen und koͤn¬
nen ſagen, daß Sie es beſitzen. Auch haben Sie da¬
durch einen Standpunct gefaßt, von welchem aus Sie
zu den uͤbrigen Phaͤnomenen weiter gehen werden. Ich
will Ihnen jetzt ſogleich ein neues zeigen.“
Es mochte etwa vier Uhr ſeyn; es war ein bedeckter
Himmel und im erſten Anfangen der Daͤmmerung.
Goethe zuͤndete ein Licht an und ging damit in die
Naͤhe des Fenſters zu einem Tiſche. Er ſetzte das Licht
auf einen weißen Bogen Papier und ſtellte ein Staͤb¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/284>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.