"Ich sehe immer mehr, fuhr Goethe fort, daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist, und daß sie überall und zu allen Zeiten in hunderten und aber hun¬ derten von Menschen hervortritt. Einer macht es ein wenig besser als der andere und schwimmt ein wenig länger oben als der andere, das ist alles. Der Herr v. Matthisson muß daher nicht denken, er wäre es, und ich muß nicht denken, ich wäre es, sondern jeder muß sich eben sagen, daß es mit der poetischen Gabe keine so seltene Sache sey, und daß niemand eben besondere Ursache habe, sich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht. Aber freylich wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pe¬ dantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gerne bey fremden Nationen um und rathe jedem, es auch seinerseits zu thun. National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Aber auch bey solcher Schätzung des Ausländischen dür¬ fen wir nicht bey etwas Besonderem haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die Nibelungen; sondern im Be¬ dürfniß von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles übrige müssen
„Ich ſehe immer mehr, fuhr Goethe fort, daß die Poeſie ein Gemeingut der Menſchheit iſt, und daß ſie uͤberall und zu allen Zeiten in hunderten und aber hun¬ derten von Menſchen hervortritt. Einer macht es ein wenig beſſer als der andere und ſchwimmt ein wenig laͤnger oben als der andere, das iſt alles. Der Herr v. Matthiſſon muß daher nicht denken, er waͤre es, und ich muß nicht denken, ich waͤre es, ſondern jeder muß ſich eben ſagen, daß es mit der poetiſchen Gabe keine ſo ſeltene Sache ſey, und daß niemand eben beſondere Urſache habe, ſich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht. Aber freylich wenn wir Deutſchen nicht aus dem engen Kreiſe unſerer eigenen Umgebung hinausblicken, ſo kommen wir gar zu leicht in dieſen pe¬ dantiſchen Duͤnkel. Ich ſehe mich daher gerne bey fremden Nationen um und rathe jedem, es auch ſeinerſeits zu thun. National-Literatur will jetzt nicht viel ſagen, die Epoche der Welt-Literatur iſt an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, dieſe Epoche zu beſchleunigen. Aber auch bey ſolcher Schaͤtzung des Auslaͤndiſchen duͤr¬ fen wir nicht bey etwas Beſonderem haften bleiben und dieſes fuͤr muſterhaft anſehen wollen. Wir muͤſſen nicht denken, das Chineſiſche waͤre es, oder das Serbiſche, oder Calderon, oder die Nibelungen; ſondern im Be¬ duͤrfniß von etwas Muſterhaftem muͤſſen wir immer zu den alten Griechen zuruͤckgehen, in deren Werken ſtets der ſchoͤne Menſch dargeſtellt iſt. Alles uͤbrige muͤſſen
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„Ich ſehe immer mehr, fuhr Goethe fort, daß die
Poeſie ein Gemeingut der Menſchheit iſt, und daß ſie
uͤberall und zu allen Zeiten in hunderten und aber hun¬
derten von Menſchen hervortritt. Einer macht es ein
wenig beſſer als der andere und ſchwimmt ein wenig
laͤnger oben als der andere, das iſt alles. Der Herr
v. Matthiſſon muß daher nicht denken, er waͤre es, und
ich muß nicht denken, ich waͤre es, ſondern jeder muß
ſich eben ſagen, daß es mit der poetiſchen Gabe keine
ſo ſeltene Sache ſey, und daß niemand eben beſondere
Urſache habe, ſich viel darauf einzubilden, wenn er ein
gutes Gedicht macht. Aber freylich wenn wir Deutſchen
nicht aus dem engen Kreiſe unſerer eigenen Umgebung
hinausblicken, ſo kommen wir gar zu leicht in dieſen pe¬
dantiſchen Duͤnkel. Ich ſehe mich daher gerne bey fremden
Nationen um und rathe jedem, es auch ſeinerſeits zu
thun. National-Literatur will jetzt nicht viel ſagen,
die Epoche der Welt-Literatur iſt an der Zeit und jeder
muß jetzt dazu wirken, dieſe Epoche zu beſchleunigen.
Aber auch bey ſolcher Schaͤtzung des Auslaͤndiſchen duͤr¬
fen wir nicht bey etwas Beſonderem haften bleiben und
dieſes fuͤr muſterhaft anſehen wollen. Wir muͤſſen nicht
denken, das Chineſiſche waͤre es, oder das Serbiſche,
oder Calderon, oder die Nibelungen; ſondern im Be¬
duͤrfniß von etwas Muſterhaftem muͤſſen wir immer zu
den alten Griechen zuruͤckgehen, in deren Werken ſtets
der ſchoͤne Menſch dargeſtellt iſt. Alles uͤbrige muͤſſen
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/345>, abgerufen am 23.11.2024.
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