wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es gehen will, uns daraus aneignen."
Ich freute mich, Goethe in einer Folge über einen so wichtigen Gegenstand reden zu hören. Das Geklin¬ gel vorbeyfahrender Schlitten lockte uns zum Fenster, denn wir erwarteten, daß der große Zug, der diesen Morgen nach Belvedere vorbey ging, wieder zurückkom¬ men würde. Goethe setzte indeß seine lehrreichen Äuße¬ rungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede und er erzählte mir, daß Graf Reinhard Herrn Man¬ zoni vor nicht langer Zeit in Paris gesehen, wo er als ein junger Autor von Namen in der Gesellschaft wohl aufgenommen gewesen sey und daß er jetzt wieder in der Nähe von Mailand auf seinem Landgute mit einer jungen Familie und seiner Mutter glücklich lebe.
"Manzoni, fuhr Goethe fort, fehlt weiter nichts, als daß er selbst nicht weiß, welch ein guter Poet er ist, und welche Rechte ihm als solchem zustehen. Er hat gar zu viel Respect vor der Geschichte und fügt aus diesem Grunde seinen Stücken immer gern einige Auseinandersetzungen hinzu, in denen er nachweiset, wie treu er den Einzelnheiten der Geschichte geblieben. Nun mögen seine Facta historisch seyn, aber seine Charactere sind es doch nicht, so wenig es mein Thoas und meine Iphigenia sind. Kein Dichter hat je die historischen Charactere gekannt, die er darstellte, hätte er sie aber gekannt, so hätte er sie schwerlich so gebrauchen können.
wir nur hiſtoriſch betrachten und das Gute, ſo weit es gehen will, uns daraus aneignen.“
Ich freute mich, Goethe in einer Folge uͤber einen ſo wichtigen Gegenſtand reden zu hoͤren. Das Geklin¬ gel vorbeyfahrender Schlitten lockte uns zum Fenſter, denn wir erwarteten, daß der große Zug, der dieſen Morgen nach Belvedere vorbey ging, wieder zuruͤckkom¬ men wuͤrde. Goethe ſetzte indeß ſeine lehrreichen Äuße¬ rungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede und er erzaͤhlte mir, daß Graf Reinhard Herrn Man¬ zoni vor nicht langer Zeit in Paris geſehen, wo er als ein junger Autor von Namen in der Geſellſchaft wohl aufgenommen geweſen ſey und daß er jetzt wieder in der Naͤhe von Mailand auf ſeinem Landgute mit einer jungen Familie und ſeiner Mutter gluͤcklich lebe.
„Manzoni, fuhr Goethe fort, fehlt weiter nichts, als daß er ſelbſt nicht weiß, welch ein guter Poet er iſt, und welche Rechte ihm als ſolchem zuſtehen. Er hat gar zu viel Reſpect vor der Geſchichte und fuͤgt aus dieſem Grunde ſeinen Stuͤcken immer gern einige Auseinanderſetzungen hinzu, in denen er nachweiſet, wie treu er den Einzelnheiten der Geſchichte geblieben. Nun moͤgen ſeine Facta hiſtoriſch ſeyn, aber ſeine Charactere ſind es doch nicht, ſo wenig es mein Thoas und meine Iphigenia ſind. Kein Dichter hat je die hiſtoriſchen Charactere gekannt, die er darſtellte, haͤtte er ſie aber gekannt, ſo haͤtte er ſie ſchwerlich ſo gebrauchen koͤnnen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0346"n="326"/>
wir nur hiſtoriſch betrachten und das Gute, ſo weit es<lb/>
gehen will, uns daraus aneignen.“</p><lb/><p>Ich freute mich, Goethe in einer Folge uͤber einen<lb/>ſo wichtigen Gegenſtand reden zu hoͤren. Das Geklin¬<lb/>
gel vorbeyfahrender Schlitten lockte uns zum Fenſter,<lb/>
denn wir erwarteten, daß der große Zug, der dieſen<lb/>
Morgen nach Belvedere vorbey ging, wieder zuruͤckkom¬<lb/>
men wuͤrde. Goethe ſetzte indeß ſeine lehrreichen Äuße¬<lb/>
rungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede<lb/>
und er erzaͤhlte mir, daß Graf Reinhard Herrn Man¬<lb/>
zoni vor nicht langer Zeit in Paris geſehen, wo er als<lb/>
ein junger Autor von Namen in der Geſellſchaft wohl<lb/>
aufgenommen geweſen ſey und daß er jetzt wieder in<lb/>
der Naͤhe von Mailand auf ſeinem Landgute mit einer<lb/>
jungen Familie und ſeiner Mutter gluͤcklich lebe.</p><lb/><p>„Manzoni, fuhr Goethe fort, fehlt weiter nichts,<lb/>
als daß er ſelbſt nicht weiß, welch ein guter Poet er<lb/>
iſt, und welche Rechte ihm als ſolchem zuſtehen. Er<lb/>
hat gar zu viel Reſpect vor der Geſchichte und fuͤgt<lb/>
aus dieſem Grunde ſeinen Stuͤcken immer gern einige<lb/>
Auseinanderſetzungen hinzu, in denen er nachweiſet, wie<lb/>
treu er den Einzelnheiten der Geſchichte geblieben. Nun<lb/>
moͤgen ſeine Facta hiſtoriſch ſeyn, aber ſeine Charactere<lb/>ſind es doch nicht, ſo wenig es mein Thoas und meine<lb/>
Iphigenia ſind. Kein Dichter hat je die hiſtoriſchen<lb/>
Charactere gekannt, die er darſtellte, haͤtte er ſie aber<lb/>
gekannt, ſo haͤtte er ſie ſchwerlich ſo gebrauchen koͤnnen.<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[326/0346]
wir nur hiſtoriſch betrachten und das Gute, ſo weit es
gehen will, uns daraus aneignen.“
Ich freute mich, Goethe in einer Folge uͤber einen
ſo wichtigen Gegenſtand reden zu hoͤren. Das Geklin¬
gel vorbeyfahrender Schlitten lockte uns zum Fenſter,
denn wir erwarteten, daß der große Zug, der dieſen
Morgen nach Belvedere vorbey ging, wieder zuruͤckkom¬
men wuͤrde. Goethe ſetzte indeß ſeine lehrreichen Äuße¬
rungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede
und er erzaͤhlte mir, daß Graf Reinhard Herrn Man¬
zoni vor nicht langer Zeit in Paris geſehen, wo er als
ein junger Autor von Namen in der Geſellſchaft wohl
aufgenommen geweſen ſey und daß er jetzt wieder in
der Naͤhe von Mailand auf ſeinem Landgute mit einer
jungen Familie und ſeiner Mutter gluͤcklich lebe.
„Manzoni, fuhr Goethe fort, fehlt weiter nichts,
als daß er ſelbſt nicht weiß, welch ein guter Poet er
iſt, und welche Rechte ihm als ſolchem zuſtehen. Er
hat gar zu viel Reſpect vor der Geſchichte und fuͤgt
aus dieſem Grunde ſeinen Stuͤcken immer gern einige
Auseinanderſetzungen hinzu, in denen er nachweiſet, wie
treu er den Einzelnheiten der Geſchichte geblieben. Nun
moͤgen ſeine Facta hiſtoriſch ſeyn, aber ſeine Charactere
ſind es doch nicht, ſo wenig es mein Thoas und meine
Iphigenia ſind. Kein Dichter hat je die hiſtoriſchen
Charactere gekannt, die er darſtellte, haͤtte er ſie aber
gekannt, ſo haͤtte er ſie ſchwerlich ſo gebrauchen koͤnnen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/346>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.