Der Dichter muß wissen, welche Wirkungen er hervor¬ bringen will und danach die Natur seiner Charactere einrichten. Hätte ich den Egmont so machen wollen, wie ihn die Geschichte meldet, als Vater von einem Dutzend Kindern, so würde sein leichtsinniges Handeln sehr absurd erschienen seyn. Ich mußte also einen an¬ dern Egmont haben, wie er besser mit seinen Handlungen und meinen dichterischen Absichten in Harmonie stände; und dieß ist, wie Clärchen sagt, mein Egmont."
"Und wozu wären denn die Poeten, wenn sie bloß die Geschichte eines Historikers wiederholen wollten! Der Dichter muß weiter gehen und uns wo möglich etwas Höheres und Besseres geben. Die Charactere des Sophocles tragen alle etwas von der hohen Seele des großen Dichters, so wie Charactere des Shakspeare von der seinigen. Und so ist es recht und so soll man es machen. Ja Shakspeare geht noch weiter und macht seine Römer zu Engländern, und zwar wieder mit Recht, denn sonst hätte ihn seine Nation nicht ver¬ standen."
"Darin, fuhr Goethe fort, waren nun wieder die Griechen so groß, daß sie weniger auf die Treue eines historischen Factums gingen, als darauf, wie es der Dichter behandelte. Zum Glück haben wir jetzt an den Philokteten ein herrliches Beyspiel, welches Süjet alle drey großen Tragiker behandelt haben, und Sophocles zuletzt und am besten. Dieses Dichters treffliches Stück
Der Dichter muß wiſſen, welche Wirkungen er hervor¬ bringen will und danach die Natur ſeiner Charactere einrichten. Haͤtte ich den Egmont ſo machen wollen, wie ihn die Geſchichte meldet, als Vater von einem Dutzend Kindern, ſo wuͤrde ſein leichtſinniges Handeln ſehr abſurd erſchienen ſeyn. Ich mußte alſo einen an¬ dern Egmont haben, wie er beſſer mit ſeinen Handlungen und meinen dichteriſchen Abſichten in Harmonie ſtaͤnde; und dieß iſt, wie Claͤrchen ſagt, mein Egmont.“
„Und wozu waͤren denn die Poeten, wenn ſie bloß die Geſchichte eines Hiſtorikers wiederholen wollten! Der Dichter muß weiter gehen und uns wo moͤglich etwas Hoͤheres und Beſſeres geben. Die Charactere des Sophocles tragen alle etwas von der hohen Seele des großen Dichters, ſo wie Charactere des Shakſpeare von der ſeinigen. Und ſo iſt es recht und ſo ſoll man es machen. Ja Shakſpeare geht noch weiter und macht ſeine Roͤmer zu Englaͤndern, und zwar wieder mit Recht, denn ſonſt haͤtte ihn ſeine Nation nicht ver¬ ſtanden.“
„Darin, fuhr Goethe fort, waren nun wieder die Griechen ſo groß, daß ſie weniger auf die Treue eines hiſtoriſchen Factums gingen, als darauf, wie es der Dichter behandelte. Zum Gluͤck haben wir jetzt an den Philokteten ein herrliches Beyſpiel, welches Suͤjet alle drey großen Tragiker behandelt haben, und Sophocles zuletzt und am beſten. Dieſes Dichters treffliches Stuͤck
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Der Dichter muß wiſſen, welche Wirkungen er hervor¬
bringen will und danach die Natur ſeiner Charactere
einrichten. Haͤtte ich den Egmont ſo machen wollen,
wie ihn die Geſchichte meldet, als Vater von einem
Dutzend Kindern, ſo wuͤrde ſein leichtſinniges Handeln
ſehr abſurd erſchienen ſeyn. Ich mußte alſo einen an¬
dern Egmont haben, wie er beſſer mit ſeinen Handlungen
und meinen dichteriſchen Abſichten in Harmonie ſtaͤnde;
und dieß iſt, wie Claͤrchen ſagt, mein Egmont.“
„Und wozu waͤren denn die Poeten, wenn ſie bloß
die Geſchichte eines Hiſtorikers wiederholen wollten!
Der Dichter muß weiter gehen und uns wo moͤglich
etwas Hoͤheres und Beſſeres geben. Die Charactere
des Sophocles tragen alle etwas von der hohen Seele
des großen Dichters, ſo wie Charactere des Shakſpeare
von der ſeinigen. Und ſo iſt es recht und ſo ſoll man
es machen. Ja Shakſpeare geht noch weiter und
macht ſeine Roͤmer zu Englaͤndern, und zwar wieder
mit Recht, denn ſonſt haͤtte ihn ſeine Nation nicht ver¬
ſtanden.“
„Darin, fuhr Goethe fort, waren nun wieder die
Griechen ſo groß, daß ſie weniger auf die Treue eines
hiſtoriſchen Factums gingen, als darauf, wie es der
Dichter behandelte. Zum Gluͤck haben wir jetzt an den
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drey großen Tragiker behandelt haben, und Sophocles
zuletzt und am beſten. Dieſes Dichters treffliches Stuͤck
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/347>, abgerufen am 23.11.2024.
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