Ich las weiter bis zu den interessanten Paragra¬ phen von den geforderten Farben, wo gelehrt wird, daß das Auge das Bedürfniß des Wechsels habe, indem es nie gerne bey derselbigen Farbe verweile, sondern so¬ gleich eine andere fordere und zwar so lebhaft, daß es sich solche selbst erzeuge, wenn es sie nicht wirklich vorfinde.
Dieses brachte ein großes Gesetz zur Sprache, das durch die ganze Natur geht und worauf alles Leben und alle Freude des Lebens beruhet. "Es ist dieses, sagte Goethe, nicht allein mit allen anderen Sinnen so, sondern auch mit unserem höheren geistigen Wesen; aber weil das Auge ein so vorzüglicher Sinn ist, so tritt dieses Gesetz des geforderten Wechsels so auffallend bey den Farben hervor und wird uns bey ihnen so vor allen deutlich bewußt. Wir haben Tänze, die uns im hohen Grade wohl gefallen, weil Dur und Moll in ihnen wechselt, wogegen aber Tänze aus bloßem Dur oder bloßem Moll sogleich ermüden."
Dasselbe Gesetz, sagte ich, scheint einem gutem Styl zum Grunde zu liegen, bey welchem wir gerne einen Klang vermeiden, der so eben gehört wurde. Auch beym Theater wäre mit diesem Gesetz viel zu machen, wenn man es gut anzuwenden wüßte. Stücke, beson¬ ders Trauerspiele, in denen ein einziger Ton ohne Wechsel durchgeht, haben etwas Lästiges und Ermüden¬ des, und wenn nun das Orchester bey einem traurigen
Ich las weiter bis zu den intereſſanten Paragra¬ phen von den geforderten Farben, wo gelehrt wird, daß das Auge das Beduͤrfniß des Wechſels habe, indem es nie gerne bey derſelbigen Farbe verweile, ſondern ſo¬ gleich eine andere fordere und zwar ſo lebhaft, daß es ſich ſolche ſelbſt erzeuge, wenn es ſie nicht wirklich vorfinde.
Dieſes brachte ein großes Geſetz zur Sprache, das durch die ganze Natur geht und worauf alles Leben und alle Freude des Lebens beruhet. „Es iſt dieſes, ſagte Goethe, nicht allein mit allen anderen Sinnen ſo, ſondern auch mit unſerem hoͤheren geiſtigen Weſen; aber weil das Auge ein ſo vorzuͤglicher Sinn iſt, ſo tritt dieſes Geſetz des geforderten Wechſels ſo auffallend bey den Farben hervor und wird uns bey ihnen ſo vor allen deutlich bewußt. Wir haben Taͤnze, die uns im hohen Grade wohl gefallen, weil Dur und Moll in ihnen wechſelt, wogegen aber Taͤnze aus bloßem Dur oder bloßem Moll ſogleich ermuͤden.“
Daſſelbe Geſetz, ſagte ich, ſcheint einem gutem Styl zum Grunde zu liegen, bey welchem wir gerne einen Klang vermeiden, der ſo eben gehoͤrt wurde. Auch beym Theater waͤre mit dieſem Geſetz viel zu machen, wenn man es gut anzuwenden wuͤßte. Stuͤcke, beſon¬ ders Trauerſpiele, in denen ein einziger Ton ohne Wechſel durchgeht, haben etwas Laͤſtiges und Ermuͤden¬ des, und wenn nun das Orcheſter bey einem traurigen
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Ich las weiter bis zu den intereſſanten Paragra¬
phen von den geforderten Farben, wo gelehrt wird, daß
das Auge das Beduͤrfniß des Wechſels habe, indem es
nie gerne bey derſelbigen Farbe verweile, ſondern ſo¬
gleich eine andere fordere und zwar ſo lebhaft, daß
es ſich ſolche ſelbſt erzeuge, wenn es ſie nicht wirklich
vorfinde.
Dieſes brachte ein großes Geſetz zur Sprache, das
durch die ganze Natur geht und worauf alles Leben
und alle Freude des Lebens beruhet. „Es iſt dieſes,
ſagte Goethe, nicht allein mit allen anderen Sinnen ſo,
ſondern auch mit unſerem hoͤheren geiſtigen Weſen; aber
weil das Auge ein ſo vorzuͤglicher Sinn iſt, ſo tritt
dieſes Geſetz des geforderten Wechſels ſo auffallend bey
den Farben hervor und wird uns bey ihnen ſo vor allen
deutlich bewußt. Wir haben Taͤnze, die uns im hohen
Grade wohl gefallen, weil Dur und Moll in ihnen
wechſelt, wogegen aber Taͤnze aus bloßem Dur oder
bloßem Moll ſogleich ermuͤden.“
Daſſelbe Geſetz, ſagte ich, ſcheint einem gutem Styl
zum Grunde zu liegen, bey welchem wir gerne einen
Klang vermeiden, der ſo eben gehoͤrt wurde. Auch
beym Theater waͤre mit dieſem Geſetz viel zu machen,
wenn man es gut anzuwenden wuͤßte. Stuͤcke, beſon¬
ders Trauerſpiele, in denen ein einziger Ton ohne
Wechſel durchgeht, haben etwas Laͤſtiges und Ermuͤden¬
des, und wenn nun das Orcheſter bey einem traurigen
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/352>, abgerufen am 22.11.2024.
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