auch die Wahrheit nicht, sagte Goethe, und das ist auch keineswegs ihre Absicht, sondern es liegt ihnen bloß daran, ihre Meinung zu beweisen. Deßhalb ver¬ bergen sie auch alle solche Experimente, wodurch die Wahrheit an den Tag kommen und die Unhaltbarkeit ihrer Lehre sich darlegen könnte."
"Und dann, um von den Schülern zu reden, wel¬ chem von ihnen wäre es denn um die Wahrheit zu thun? Das sind auch Leute, wie andere und völlig zufrieden, wenn sie über die Sache empirisch mitschwa¬ tzen können. Das ist Alles. Die Menschen sind über¬ haupt eigener Natur: sobald ein See zugefroren ist, sind sie gleich zu hunderten darauf und amüsiren sich auf der glatten Oberfläche; aber wem fällt es ein zu untersuchen, wie tief er ist und welche Arten von Fi¬ schen unter dem Eise hin- und herschwimmen. Niebuhr hat jetzt einen Handelstractat zwischen Rom und Car¬ thago entdeckt aus einer sehr frühen Zeit, woraus es erwiesen ist, daß alle Geschichte des Livius vom frühen Zustande des Römischen Volks nichts als Fabeln sind, indem aus jenem Tractat ersichtlich, daß Rom schon sehr früh in einem weit höheren Zustande der Cultur sich befunden als aus dem Livius hervorgeht. Aber wenn Sie nun glauben, daß dieser entdeckte Tractat in der bisherigen Lehrart der römischen Geschichte eine große Reform hervorbringen werde, so sind Sie im Irrthum. Denken Sie nur immer an den gefrorenen See; so
auch die Wahrheit nicht, ſagte Goethe, und das iſt auch keineswegs ihre Abſicht, ſondern es liegt ihnen bloß daran, ihre Meinung zu beweiſen. Deßhalb ver¬ bergen ſie auch alle ſolche Experimente, wodurch die Wahrheit an den Tag kommen und die Unhaltbarkeit ihrer Lehre ſich darlegen koͤnnte.“
„Und dann, um von den Schuͤlern zu reden, wel¬ chem von ihnen waͤre es denn um die Wahrheit zu thun? Das ſind auch Leute, wie andere und voͤllig zufrieden, wenn ſie uͤber die Sache empiriſch mitſchwa¬ tzen koͤnnen. Das iſt Alles. Die Menſchen ſind uͤber¬ haupt eigener Natur: ſobald ein See zugefroren iſt, ſind ſie gleich zu hunderten darauf und amuͤſiren ſich auf der glatten Oberflaͤche; aber wem faͤllt es ein zu unterſuchen, wie tief er iſt und welche Arten von Fi¬ ſchen unter dem Eiſe hin- und herſchwimmen. Niebuhr hat jetzt einen Handelstractat zwiſchen Rom und Car¬ thago entdeckt aus einer ſehr fruͤhen Zeit, woraus es erwieſen iſt, daß alle Geſchichte des Livius vom fruͤhen Zuſtande des Roͤmiſchen Volks nichts als Fabeln ſind, indem aus jenem Tractat erſichtlich, daß Rom ſchon ſehr fruͤh in einem weit hoͤheren Zuſtande der Cultur ſich befunden als aus dem Livius hervorgeht. Aber wenn Sie nun glauben, daß dieſer entdeckte Tractat in der bisherigen Lehrart der roͤmiſchen Geſchichte eine große Reform hervorbringen werde, ſo ſind Sie im Irrthum. Denken Sie nur immer an den gefrorenen See; ſo
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auch die Wahrheit nicht, ſagte Goethe, und das iſt
auch keineswegs ihre Abſicht, ſondern es liegt ihnen
bloß daran, ihre Meinung zu beweiſen. Deßhalb ver¬
bergen ſie auch alle ſolche Experimente, wodurch die
Wahrheit an den Tag kommen und die Unhaltbarkeit
ihrer Lehre ſich darlegen koͤnnte.“
„Und dann, um von den Schuͤlern zu reden, wel¬
chem von ihnen waͤre es denn um die Wahrheit zu
thun? Das ſind auch Leute, wie andere und voͤllig
zufrieden, wenn ſie uͤber die Sache empiriſch mitſchwa¬
tzen koͤnnen. Das iſt Alles. Die Menſchen ſind uͤber¬
haupt eigener Natur: ſobald ein See zugefroren iſt,
ſind ſie gleich zu hunderten darauf und amuͤſiren ſich
auf der glatten Oberflaͤche; aber wem faͤllt es ein zu
unterſuchen, wie tief er iſt und welche Arten von Fi¬
ſchen unter dem Eiſe hin- und herſchwimmen. Niebuhr
hat jetzt einen Handelstractat zwiſchen Rom und Car¬
thago entdeckt aus einer ſehr fruͤhen Zeit, woraus es
erwieſen iſt, daß alle Geſchichte des Livius vom fruͤhen
Zuſtande des Roͤmiſchen Volks nichts als Fabeln ſind,
indem aus jenem Tractat erſichtlich, daß Rom ſchon
ſehr fruͤh in einem weit hoͤheren Zuſtande der Cultur
ſich befunden als aus dem Livius hervorgeht. Aber
wenn Sie nun glauben, daß dieſer entdeckte Tractat in
der bisherigen Lehrart der roͤmiſchen Geſchichte eine große
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Denken Sie nur immer an den gefrorenen See; ſo
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/355>, abgerufen am 22.11.2024.
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