überlassen, es fehlen die lebendigen Meister, die sie in die Geheimnisse der Kunst einführen. Zwar ist auch von den Todten etwas zu lernen, allein dieses ist, wie es sich zeigt, mehr ein Absehen von Einzelnheiten als ein Eindringen in eines Meisters tiefere Art zu denken und zu verfahren.
Frau und Herr v. Goethe traten herein und wir setz¬ ten uns zu Tisch. Die Gespräche wechselten über hei¬ tere Gegenstände des Tages: Theater, Bälle und Hof, flüchtig hin und her. Bald aber waren wir wieder auf ernstere Dinge gerathen und wir sahen uns in einem Gespräch über Religionslehren in England tief befangen.
"Ihr müßtet wie ich, sagte Goethe, seit funfzig Jahren die Kirchengeschichte studirt haben, um zu be¬ greifen, wie das alles zusammenhängt. Dagegen ist es höchst merkwürdig, mit welchen Lehren die Mohame¬ daner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Über¬ zeugung, daß dem Menschen nichts begegnen könne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit längst be¬ stimmt worden; und somit sind sie denn für ihr ganzes Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen kaum eines Weiteren."
"Ich will nicht untersuchen, was an dieser Lehre Wahres oder Falsches, Nützliches oder Schädliches seyn mag; aber im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns Allen, auch ohne daß es uns gelehrt
uͤberlaſſen, es fehlen die lebendigen Meiſter, die ſie in die Geheimniſſe der Kunſt einfuͤhren. Zwar iſt auch von den Todten etwas zu lernen, allein dieſes iſt, wie es ſich zeigt, mehr ein Abſehen von Einzelnheiten als ein Eindringen in eines Meiſters tiefere Art zu denken und zu verfahren.
Frau und Herr v. Goethe traten herein und wir ſetz¬ ten uns zu Tiſch. Die Geſpraͤche wechſelten uͤber hei¬ tere Gegenſtaͤnde des Tages: Theater, Baͤlle und Hof, fluͤchtig hin und her. Bald aber waren wir wieder auf ernſtere Dinge gerathen und wir ſahen uns in einem Geſpraͤch uͤber Religionslehren in England tief befangen.
„Ihr muͤßtet wie ich, ſagte Goethe, ſeit funfzig Jahren die Kirchengeſchichte ſtudirt haben, um zu be¬ greifen, wie das alles zuſammenhaͤngt. Dagegen iſt es hoͤchſt merkwuͤrdig, mit welchen Lehren die Mohame¬ daner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befeſtigen ſie ihre Jugend zunaͤchſt in der Über¬ zeugung, daß dem Menſchen nichts begegnen koͤnne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit laͤngſt be¬ ſtimmt worden; und ſomit ſind ſie denn fuͤr ihr ganzes Leben ausgeruͤſtet und beruhigt und beduͤrfen kaum eines Weiteren.“
„Ich will nicht unterſuchen, was an dieſer Lehre Wahres oder Falſches, Nuͤtzliches oder Schaͤdliches ſeyn mag; aber im Grunde liegt von dieſem Glauben doch etwas in uns Allen, auch ohne daß es uns gelehrt
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uͤberlaſſen, es fehlen die lebendigen Meiſter, die ſie in
die Geheimniſſe der Kunſt einfuͤhren. Zwar iſt auch
von den Todten etwas zu lernen, allein dieſes iſt, wie
es ſich zeigt, mehr ein Abſehen von Einzelnheiten als
ein Eindringen in eines Meiſters tiefere Art zu denken
und zu verfahren.
Frau und Herr v. Goethe traten herein und wir ſetz¬
ten uns zu Tiſch. Die Geſpraͤche wechſelten uͤber hei¬
tere Gegenſtaͤnde des Tages: Theater, Baͤlle und Hof,
fluͤchtig hin und her. Bald aber waren wir wieder
auf ernſtere Dinge gerathen und wir ſahen uns in einem
Geſpraͤch uͤber Religionslehren in England tief befangen.
„Ihr muͤßtet wie ich, ſagte Goethe, ſeit funfzig
Jahren die Kirchengeſchichte ſtudirt haben, um zu be¬
greifen, wie das alles zuſammenhaͤngt. Dagegen iſt es
hoͤchſt merkwuͤrdig, mit welchen Lehren die Mohame¬
daner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der
Religion befeſtigen ſie ihre Jugend zunaͤchſt in der Über¬
zeugung, daß dem Menſchen nichts begegnen koͤnne, als
was ihm von einer alles leitenden Gottheit laͤngſt be¬
ſtimmt worden; und ſomit ſind ſie denn fuͤr ihr ganzes
Leben ausgeruͤſtet und beruhigt und beduͤrfen kaum eines
Weiteren.“
„Ich will nicht unterſuchen, was an dieſer Lehre
Wahres oder Falſches, Nuͤtzliches oder Schaͤdliches ſeyn
mag; aber im Grunde liegt von dieſem Glauben doch
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/369>, abgerufen am 22.11.2024.
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