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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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ten, die unser eigenes Denken anzuregen und uns selbst
productiv zu machen geeignet wären.

"Sie haben wohl Recht, sagte Goethe. Lessing soll
selbst einmal geäußert haben, daß, wenn Gott ihm die
Wahrheit geben wolle, er sich dieses Geschenk verbit¬
ten, vielmehr die Mühe vorziehen würde, sie selber
zu suchen."

"Jenes philosophische System der Mohamedaner
ist ein artiger Maßstab, den man an sich und Andere
anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe gei¬
stiger Tugend man denn eigentlich stehe."

"Lessing hält sich, seiner polemischen Natur nach,
am liebsten in der Region der Widersprüche und Zweifel
auf; das Unterscheiden ist seine Sache, und dabey kam
ihm sein großer Verstand auf das Herrlichste zu Stat¬
ten. Mich selbst werden Sie dagegen ganz anders
finden; ich habe mich nie auf Widersprüche eingelassen,
die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen
gesucht und nur die gefundenen Resultate habe ich aus¬
gesprochen."

Ich fragte Goethe, welchen der neueren Philosophen
er für den vorzüglichsten halte.

"Kant, sagte er, ist der vorzüglichste, ohne allen
Zweifel. Er ist auch derjenige, dessen Lehre sich fort¬
wirkend erwiesen hat, und die in unsere deutsche Cul¬
tur am tiefsten eingedrungen ist. Er hat auch auf Sie
gewirkt, ohne daß Sie ihn gelesen haben. Jetzt brau¬

ten, die unſer eigenes Denken anzuregen und uns ſelbſt
productiv zu machen geeignet waͤren.

„Sie haben wohl Recht, ſagte Goethe. Leſſing ſoll
ſelbſt einmal geaͤußert haben, daß, wenn Gott ihm die
Wahrheit geben wolle, er ſich dieſes Geſchenk verbit¬
ten, vielmehr die Muͤhe vorziehen wuͤrde, ſie ſelber
zu ſuchen.“

„Jenes philoſophiſche Syſtem der Mohamedaner
iſt ein artiger Maßſtab, den man an ſich und Andere
anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe gei¬
ſtiger Tugend man denn eigentlich ſtehe.“

„Leſſing haͤlt ſich, ſeiner polemiſchen Natur nach,
am liebſten in der Region der Widerſpruͤche und Zweifel
auf; das Unterſcheiden iſt ſeine Sache, und dabey kam
ihm ſein großer Verſtand auf das Herrlichſte zu Stat¬
ten. Mich ſelbſt werden Sie dagegen ganz anders
finden; ich habe mich nie auf Widerſpruͤche eingelaſſen,
die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen
geſucht und nur die gefundenen Reſultate habe ich aus¬
geſprochen.“

Ich fragte Goethe, welchen der neueren Philoſophen
er fuͤr den vorzuͤglichſten halte.

Kant, ſagte er, iſt der vorzuͤglichſte, ohne allen
Zweifel. Er iſt auch derjenige, deſſen Lehre ſich fort¬
wirkend erwieſen hat, und die in unſere deutſche Cul¬
tur am tiefſten eingedrungen iſt. Er hat auch auf Sie
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[352/0372] ten, die unſer eigenes Denken anzuregen und uns ſelbſt productiv zu machen geeignet waͤren. „Sie haben wohl Recht, ſagte Goethe. Leſſing ſoll ſelbſt einmal geaͤußert haben, daß, wenn Gott ihm die Wahrheit geben wolle, er ſich dieſes Geſchenk verbit¬ ten, vielmehr die Muͤhe vorziehen wuͤrde, ſie ſelber zu ſuchen.“ „Jenes philoſophiſche Syſtem der Mohamedaner iſt ein artiger Maßſtab, den man an ſich und Andere anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe gei¬ ſtiger Tugend man denn eigentlich ſtehe.“ „Leſſing haͤlt ſich, ſeiner polemiſchen Natur nach, am liebſten in der Region der Widerſpruͤche und Zweifel auf; das Unterſcheiden iſt ſeine Sache, und dabey kam ihm ſein großer Verſtand auf das Herrlichſte zu Stat¬ ten. Mich ſelbſt werden Sie dagegen ganz anders finden; ich habe mich nie auf Widerſpruͤche eingelaſſen, die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen geſucht und nur die gefundenen Reſultate habe ich aus¬ geſprochen.“ Ich fragte Goethe, welchen der neueren Philoſophen er fuͤr den vorzuͤglichſten halte. „Kant, ſagte er, iſt der vorzuͤglichſte, ohne allen Zweifel. Er iſt auch derjenige, deſſen Lehre ſich fort¬ wirkend erwieſen hat, und die in unſere deutſche Cul¬ tur am tiefſten eingedrungen iſt. Er hat auch auf Sie gewirkt, ohne daß Sie ihn geleſen haben. Jetzt brau¬

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/372>, abgerufen am 22.11.2024.