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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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von einer Hinneigung zum Sentimentalen, sondern das
wirkliche Leben steht vor uns, wie es ist, oft wider¬
wärtig und abscheulich genug, aber im Ganzen immer
heiteren Eindruckes, wegen der ganz entschiedenen Rea¬
lität.

"Ich habe den Roderik Random oft rühmen hören,
sagte Goethe, und glaube, was Sie mir von ihm er¬
wähnen; doch ich habe ihn nie gelesen. Kennen Sie
den Rasselas von Johnson? Lesen Sie ihn doch auch
einmal und sagen Sie mir, wie Sie ihn finden." Ich
versprach dieses zu thun.

Auch in Lord Byron, sagte ich, finde ich häufig
Darstellungen, die ganz unmittelbar dastehen und uns
rein den Gegenstand geben, ohne unser inneres Sen¬
timent auf eine andere Weise anzuregen als es eine
unmittelbare Handzeichnung eines guten Malers thut.
Besonders der Don Juan ist an solchen Stellen reich.

"Ja, sagte Goethe, darin ist Lord Byron groß;
seine Darstellungen haben eine so leicht hingeworfene
Realität, als wären sie improvisirt. Von Don Juan
kenne ich wenig; allein aus seinen anderen Gedichten
sind mir solche Stellen im Gedächtniß, besonders See¬
stücke, wo hin und wieder ein Segel herausblickt, ganz
unschätzbar, so daß man sogar die Wasserluft mit zu
empfinden glaubt."

In seinem Don Juan, sagte ich, habe ich besonders
die Darstellung der Stadt London bewundert, die man

von einer Hinneigung zum Sentimentalen, ſondern das
wirkliche Leben ſteht vor uns, wie es iſt, oft wider¬
waͤrtig und abſcheulich genug, aber im Ganzen immer
heiteren Eindruckes, wegen der ganz entſchiedenen Rea¬
litaͤt.

„Ich habe den Roderik Random oft ruͤhmen hoͤren,
ſagte Goethe, und glaube, was Sie mir von ihm er¬
waͤhnen; doch ich habe ihn nie geleſen. Kennen Sie
den Raſſelas von Johnſon? Leſen Sie ihn doch auch
einmal und ſagen Sie mir, wie Sie ihn finden.“ Ich
verſprach dieſes zu thun.

Auch in Lord Byron, ſagte ich, finde ich haͤufig
Darſtellungen, die ganz unmittelbar daſtehen und uns
rein den Gegenſtand geben, ohne unſer inneres Sen¬
timent auf eine andere Weiſe anzuregen als es eine
unmittelbare Handzeichnung eines guten Malers thut.
Beſonders der Don Juan iſt an ſolchen Stellen reich.

„Ja, ſagte Goethe, darin iſt Lord Byron groß;
ſeine Darſtellungen haben eine ſo leicht hingeworfene
Realitaͤt, als waͤren ſie improviſirt. Von Don Juan
kenne ich wenig; allein aus ſeinen anderen Gedichten
ſind mir ſolche Stellen im Gedaͤchtniß, beſonders See¬
ſtuͤcke, wo hin und wieder ein Segel herausblickt, ganz
unſchaͤtzbar, ſo daß man ſogar die Waſſerluft mit zu
empfinden glaubt.“

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die Darſtellung der Stadt London bewundert, die man

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[362/0382] von einer Hinneigung zum Sentimentalen, ſondern das wirkliche Leben ſteht vor uns, wie es iſt, oft wider¬ waͤrtig und abſcheulich genug, aber im Ganzen immer heiteren Eindruckes, wegen der ganz entſchiedenen Rea¬ litaͤt. „Ich habe den Roderik Random oft ruͤhmen hoͤren, ſagte Goethe, und glaube, was Sie mir von ihm er¬ waͤhnen; doch ich habe ihn nie geleſen. Kennen Sie den Raſſelas von Johnſon? Leſen Sie ihn doch auch einmal und ſagen Sie mir, wie Sie ihn finden.“ Ich verſprach dieſes zu thun. Auch in Lord Byron, ſagte ich, finde ich haͤufig Darſtellungen, die ganz unmittelbar daſtehen und uns rein den Gegenſtand geben, ohne unſer inneres Sen¬ timent auf eine andere Weiſe anzuregen als es eine unmittelbare Handzeichnung eines guten Malers thut. Beſonders der Don Juan iſt an ſolchen Stellen reich. „Ja, ſagte Goethe, darin iſt Lord Byron groß; ſeine Darſtellungen haben eine ſo leicht hingeworfene Realitaͤt, als waͤren ſie improviſirt. Von Don Juan kenne ich wenig; allein aus ſeinen anderen Gedichten ſind mir ſolche Stellen im Gedaͤchtniß, beſonders See¬ ſtuͤcke, wo hin und wieder ein Segel herausblickt, ganz unſchaͤtzbar, ſo daß man ſogar die Waſſerluft mit zu empfinden glaubt.“ In ſeinem Don Juan, ſagte ich, habe ich beſonders die Darſtellung der Stadt London bewundert, die man

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/382>, abgerufen am 22.11.2024.