Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

ken wußte; vielmehr fand ich das menschliche Herz in
allen seinem Verlangen, Glück und Leiden, ich fand
eine deutsche Natur wie der gegenwärtige helle Tag, eine
reine Wirklichkeit in dem Lichte milder Verklärung.

Ich lebte in diesen Liedern ganze Wochen und Mo¬
nate. Dann gelang es mir den Wilhelm Meister zu be¬
kommen, dann sein Leben, dann seine dramatischen Werke.
Den Faust, vor dessen Abgründen menschlicher Natur und
Verderbniß ich anfänglich zurückschauderte, dessen bedeu¬
tend-räthselhaftes Wesen mich aber immer wieder anzog,
las ich alle Festtage. Bewunderung und Liebe nahm
täglich zu, ich lebte und webte Jahr und Tag in diesen
Werken und dachte und sprach nichts als von Goethe.

Der Nutzen, den wir aus dem Studium der Werke
eines großen Schriftstellers ziehen, kann mannigfaltiger
Art seyn; ein Hauptgewinn aber möchte darin bestehen,
daß wir uns nicht allein unseres eigenen Innern, son¬
dern auch der mannigfaltigen Welt außer uns deutlicher
bewußt werden. Eine solche Wirkung hatten auf mich
die Werke Goethe's. Auch ward ich durch sie zur bes¬
seren Beobachtung und Auffassung der sinnlichen Gegen¬
stände und Charactere getrieben; ich kam nach und
nach zu dem Begriff der Einheit oder der innerlichsten
Harmonie eines Individuums mit sich selber, und
somit ward mir denn das Räthsel der großen Mannig¬
faltigkeit sowohl natürlicher als künstlerischer Erscheinun¬
gen immer mehr aufgeschlossen.

ken wußte; vielmehr fand ich das menſchliche Herz in
allen ſeinem Verlangen, Gluͤck und Leiden, ich fand
eine deutſche Natur wie der gegenwaͤrtige helle Tag, eine
reine Wirklichkeit in dem Lichte milder Verklaͤrung.

Ich lebte in dieſen Liedern ganze Wochen und Mo¬
nate. Dann gelang es mir den Wilhelm Meiſter zu be¬
kommen, dann ſein Leben, dann ſeine dramatiſchen Werke.
Den Fauſt, vor deſſen Abgruͤnden menſchlicher Natur und
Verderbniß ich anfaͤnglich zuruͤckſchauderte, deſſen bedeu¬
tend-raͤthſelhaftes Weſen mich aber immer wieder anzog,
las ich alle Feſttage. Bewunderung und Liebe nahm
taͤglich zu, ich lebte und webte Jahr und Tag in dieſen
Werken und dachte und ſprach nichts als von Goethe.

Der Nutzen, den wir aus dem Studium der Werke
eines großen Schriftſtellers ziehen, kann mannigfaltiger
Art ſeyn; ein Hauptgewinn aber moͤchte darin beſtehen,
daß wir uns nicht allein unſeres eigenen Innern, ſon¬
dern auch der mannigfaltigen Welt außer uns deutlicher
bewußt werden. Eine ſolche Wirkung hatten auf mich
die Werke Goethe's. Auch ward ich durch ſie zur beſ¬
ſeren Beobachtung und Auffaſſung der ſinnlichen Gegen¬
ſtaͤnde und Charactere getrieben; ich kam nach und
nach zu dem Begriff der Einheit oder der innerlichſten
Harmonie eines Individuums mit ſich ſelber, und
ſomit ward mir denn das Raͤthſel der großen Mannig¬
faltigkeit ſowohl natuͤrlicher als kuͤnſtleriſcher Erſcheinun¬
gen immer mehr aufgeſchloſſen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0040" n="20"/>
ken wußte; vielmehr fand ich das men&#x017F;chliche Herz in<lb/>
allen &#x017F;einem Verlangen, Glu&#x0364;ck und Leiden, ich fand<lb/>
eine deut&#x017F;che Natur wie der gegenwa&#x0364;rtige helle Tag, eine<lb/>
reine Wirklichkeit in dem Lichte milder Verkla&#x0364;rung.</p><lb/>
          <p>Ich lebte in die&#x017F;en Liedern ganze Wochen und Mo¬<lb/>
nate. Dann gelang es mir den Wilhelm Mei&#x017F;ter zu be¬<lb/>
kommen, dann &#x017F;ein Leben, dann &#x017F;eine dramati&#x017F;chen Werke.<lb/>
Den Fau&#x017F;t, vor de&#x017F;&#x017F;en Abgru&#x0364;nden men&#x017F;chlicher Natur und<lb/>
Verderbniß ich anfa&#x0364;nglich zuru&#x0364;ck&#x017F;chauderte, de&#x017F;&#x017F;en bedeu¬<lb/>
tend-ra&#x0364;th&#x017F;elhaftes We&#x017F;en mich aber immer wieder anzog,<lb/>
las ich alle Fe&#x017F;ttage. Bewunderung und Liebe nahm<lb/>
ta&#x0364;glich zu, ich lebte und webte Jahr und Tag in die&#x017F;en<lb/>
Werken und dachte und &#x017F;prach nichts als von Goethe.</p><lb/>
          <p>Der Nutzen, den wir aus dem Studium der Werke<lb/>
eines großen Schrift&#x017F;tellers ziehen, kann mannigfaltiger<lb/>
Art &#x017F;eyn; ein Hauptgewinn aber mo&#x0364;chte darin be&#x017F;tehen,<lb/>
daß wir uns nicht allein un&#x017F;eres eigenen Innern, &#x017F;on¬<lb/>
dern auch der mannigfaltigen Welt außer uns deutlicher<lb/>
bewußt werden. Eine &#x017F;olche Wirkung hatten auf mich<lb/>
die Werke Goethe's. Auch ward ich durch &#x017F;ie zur be&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;eren Beobachtung und Auffa&#x017F;&#x017F;ung der &#x017F;innlichen Gegen¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nde und Charactere getrieben; ich kam nach und<lb/>
nach zu dem Begriff der Einheit oder der innerlich&#x017F;ten<lb/>
Harmonie eines Individuums mit &#x017F;ich &#x017F;elber, und<lb/>
&#x017F;omit ward mir denn das Ra&#x0364;th&#x017F;el der großen Mannig¬<lb/>
faltigkeit &#x017F;owohl natu&#x0364;rlicher als ku&#x0364;n&#x017F;tleri&#x017F;cher Er&#x017F;cheinun¬<lb/>
gen immer mehr aufge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0040] ken wußte; vielmehr fand ich das menſchliche Herz in allen ſeinem Verlangen, Gluͤck und Leiden, ich fand eine deutſche Natur wie der gegenwaͤrtige helle Tag, eine reine Wirklichkeit in dem Lichte milder Verklaͤrung. Ich lebte in dieſen Liedern ganze Wochen und Mo¬ nate. Dann gelang es mir den Wilhelm Meiſter zu be¬ kommen, dann ſein Leben, dann ſeine dramatiſchen Werke. Den Fauſt, vor deſſen Abgruͤnden menſchlicher Natur und Verderbniß ich anfaͤnglich zuruͤckſchauderte, deſſen bedeu¬ tend-raͤthſelhaftes Weſen mich aber immer wieder anzog, las ich alle Feſttage. Bewunderung und Liebe nahm taͤglich zu, ich lebte und webte Jahr und Tag in dieſen Werken und dachte und ſprach nichts als von Goethe. Der Nutzen, den wir aus dem Studium der Werke eines großen Schriftſtellers ziehen, kann mannigfaltiger Art ſeyn; ein Hauptgewinn aber moͤchte darin beſtehen, daß wir uns nicht allein unſeres eigenen Innern, ſon¬ dern auch der mannigfaltigen Welt außer uns deutlicher bewußt werden. Eine ſolche Wirkung hatten auf mich die Werke Goethe's. Auch ward ich durch ſie zur beſ¬ ſeren Beobachtung und Auffaſſung der ſinnlichen Gegen¬ ſtaͤnde und Charactere getrieben; ich kam nach und nach zu dem Begriff der Einheit oder der innerlichſten Harmonie eines Individuums mit ſich ſelber, und ſomit ward mir denn das Raͤthſel der großen Mannig¬ faltigkeit ſowohl natuͤrlicher als kuͤnſtleriſcher Erſcheinun¬ gen immer mehr aufgeſchloſſen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/40
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/40>, abgerufen am 02.05.2024.