hört, habe er immer rasch seinen Hut genommen und sey zu ihr hinunter geeilt. Er habe keine Stunde versäumt bey ihr zu seyn, er habe glückliche Tage gelebt; sodann die Trennung sey ihm sehr schwer geworden und er habe in solchem leidenschaftlichen Zustande ein überaus schönes Gedicht gemacht, das er jedoch wie eine Art Heiligthum ansehe und geheim halte.
Ich glaubte dieser Sage, weil sie nicht allein seiner körperlichen Rüstigkeit, sondern auch der productiven Kraft seines Geistes und der gesunden Frische seines Herzens vollkommen entsprach. Nach dem Gedicht selbst hatte ich längst ein großes Verlangen getragen, doch mit Recht Anstand genommen Goethe darum zu bitten. Ich hatte daher die Gunst des Augenblickes zu preisen, wodurch es mir nun vor Augen lag.
Er hatte die Verse eigenhändig mit lateinischen Let¬ tern auf starkes Velinpapier geschrieben und mit einer seidenen Schnur in einer Decke von rothem Maroquin befestigt, und es trug also schon im Äußern, daß er dieses Manuscript vor allen seinen übrigen besonders werth halte.
Ich las den Inhalt mit hoher Freude und fand in jeder Zeile die Bestätigung der allgemeinen Sage. Doch deuteten gleich die ersten Verse darauf, daß die Be¬ kanntschaft nicht diesesmal erst gemacht, sondern er¬ neuert worden. Das Gedicht wälzte sich stets um seine eigene Axe und schien immer dahin zurückzukehren
hoͤrt, habe er immer raſch ſeinen Hut genommen und ſey zu ihr hinunter geeilt. Er habe keine Stunde verſaͤumt bey ihr zu ſeyn, er habe gluͤckliche Tage gelebt; ſodann die Trennung ſey ihm ſehr ſchwer geworden und er habe in ſolchem leidenſchaftlichen Zuſtande ein uͤberaus ſchoͤnes Gedicht gemacht, das er jedoch wie eine Art Heiligthum anſehe und geheim halte.
Ich glaubte dieſer Sage, weil ſie nicht allein ſeiner koͤrperlichen Ruͤſtigkeit, ſondern auch der productiven Kraft ſeines Geiſtes und der geſunden Friſche ſeines Herzens vollkommen entſprach. Nach dem Gedicht ſelbſt hatte ich laͤngſt ein großes Verlangen getragen, doch mit Recht Anſtand genommen Goethe darum zu bitten. Ich hatte daher die Gunſt des Augenblickes zu preiſen, wodurch es mir nun vor Augen lag.
Er hatte die Verſe eigenhaͤndig mit lateiniſchen Let¬ tern auf ſtarkes Velinpapier geſchrieben und mit einer ſeidenen Schnur in einer Decke von rothem Maroquin befeſtigt, und es trug alſo ſchon im Äußern, daß er dieſes Manuſcript vor allen ſeinen uͤbrigen beſonders werth halte.
Ich las den Inhalt mit hoher Freude und fand in jeder Zeile die Beſtaͤtigung der allgemeinen Sage. Doch deuteten gleich die erſten Verſe darauf, daß die Be¬ kanntſchaft nicht dieſesmal erſt gemacht, ſondern er¬ neuert worden. Das Gedicht waͤlzte ſich ſtets um ſeine eigene Axe und ſchien immer dahin zuruͤckzukehren
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hoͤrt, habe er immer raſch ſeinen Hut genommen und ſey
zu ihr hinunter geeilt. Er habe keine Stunde verſaͤumt
bey ihr zu ſeyn, er habe gluͤckliche Tage gelebt; ſodann
die Trennung ſey ihm ſehr ſchwer geworden und er habe
in ſolchem leidenſchaftlichen Zuſtande ein uͤberaus ſchoͤnes
Gedicht gemacht, das er jedoch wie eine Art Heiligthum
anſehe und geheim halte.
Ich glaubte dieſer Sage, weil ſie nicht allein ſeiner
koͤrperlichen Ruͤſtigkeit, ſondern auch der productiven
Kraft ſeines Geiſtes und der geſunden Friſche ſeines
Herzens vollkommen entſprach. Nach dem Gedicht ſelbſt
hatte ich laͤngſt ein großes Verlangen getragen, doch
mit Recht Anſtand genommen Goethe darum zu bitten.
Ich hatte daher die Gunſt des Augenblickes zu preiſen,
wodurch es mir nun vor Augen lag.
Er hatte die Verſe eigenhaͤndig mit lateiniſchen Let¬
tern auf ſtarkes Velinpapier geſchrieben und mit einer
ſeidenen Schnur in einer Decke von rothem Maroquin
befeſtigt, und es trug alſo ſchon im Äußern, daß er
dieſes Manuſcript vor allen ſeinen uͤbrigen beſonders
werth halte.
Ich las den Inhalt mit hoher Freude und fand in
jeder Zeile die Beſtaͤtigung der allgemeinen Sage. Doch
deuteten gleich die erſten Verſe darauf, daß die Be¬
kanntſchaft nicht dieſesmal erſt gemacht, ſondern er¬
neuert worden. Das Gedicht waͤlzte ſich ſtets um
ſeine eigene Axe und ſchien immer dahin zuruͤckzukehren
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/91>, abgerufen am 21.11.2024.
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