Seitdem ich den langen Brief von vorgestern von der Seele habe, fühle ich mich heiter und frey, wie nicht seit Jahren, und ich möchte immer schreiben und reden. Es ist mir wirklich das höchste Bedürfniß, mich wenigstens vor der Hand von Weimar entfernt zu hal¬ ten; ich hoffe, daß Sie es billigen, und sehe schon die Zeit, wo Sie sagen werden, daß ich recht gethan.
Morgen wird das hiesige Theater mit dem Barbier von Sevilla eröffnet, welches ich noch sehen will; dann aber gedenke ich ernstlich abzureisen. Das Wetter scheint sich auch aufklären und mich begünstigen zu wollen. Es hat hier geregnet seit Ihrem Geburtstage, wo es schon morgens früh mit Gewittern anfing, die den ganzen Tag, in der Richtung von Lyon her, die Rhone herauf über den See zogen nach Lausanne zu, so daß es fast den ganzen Tag donnerte. Ich habe ein Zimmer für 16 Sous täglich, das mir die schönste Aussicht auf den See und das Gebirge gewährt. Gestern regnete es unten, es war kalt, und die höchsten Spitzen des Jura zeigten sich nach vorbeygezogenem Schauer zum ersten Mal weiß mit Schnee, der aber heute schon wieder ver¬ schwunden ist. Die Vorgebirge des Montblanc fangen schon an sich mit bleibendem Weiß zu umhüllen; an der Küste des See's hinauf, in dem Grün der reichen Ve¬ getation, stehen schon einige Bäume gelb und braun; die Nächte werden kalt, und man sieht, daß der Herbst vor der Thür ist.
Seitdem ich den langen Brief von vorgeſtern von der Seele habe, fuͤhle ich mich heiter und frey, wie nicht ſeit Jahren, und ich moͤchte immer ſchreiben und reden. Es iſt mir wirklich das hoͤchſte Beduͤrfniß, mich wenigſtens vor der Hand von Weimar entfernt zu hal¬ ten; ich hoffe, daß Sie es billigen, und ſehe ſchon die Zeit, wo Sie ſagen werden, daß ich recht gethan.
Morgen wird das hieſige Theater mit dem Barbier von Sevilla eroͤffnet, welches ich noch ſehen will; dann aber gedenke ich ernſtlich abzureiſen. Das Wetter ſcheint ſich auch aufklaͤren und mich beguͤnſtigen zu wollen. Es hat hier geregnet ſeit Ihrem Geburtstage, wo es ſchon morgens fruͤh mit Gewittern anfing, die den ganzen Tag, in der Richtung von Lyon her, die Rhone herauf uͤber den See zogen nach Lauſanne zu, ſo daß es faſt den ganzen Tag donnerte. Ich habe ein Zimmer fuͤr 16 Sous taͤglich, das mir die ſchoͤnſte Ausſicht auf den See und das Gebirge gewaͤhrt. Geſtern regnete es unten, es war kalt, und die hoͤchſten Spitzen des Jura zeigten ſich nach vorbeygezogenem Schauer zum erſten Mal weiß mit Schnee, der aber heute ſchon wieder ver¬ ſchwunden iſt. Die Vorgebirge des Montblanc fangen ſchon an ſich mit bleibendem Weiß zu umhuͤllen; an der Kuͤſte des See's hinauf, in dem Gruͤn der reichen Ve¬ getation, ſtehen ſchon einige Baͤume gelb und braun; die Naͤchte werden kalt, und man ſieht, daß der Herbſt vor der Thuͤr iſt.
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Seitdem ich den langen Brief von vorgeſtern von
der Seele habe, fuͤhle ich mich heiter und frey, wie
nicht ſeit Jahren, und ich moͤchte immer ſchreiben und
reden. Es iſt mir wirklich das hoͤchſte Beduͤrfniß, mich
wenigſtens vor der Hand von Weimar entfernt zu hal¬
ten; ich hoffe, daß Sie es billigen, und ſehe ſchon die
Zeit, wo Sie ſagen werden, daß ich recht gethan.
Morgen wird das hieſige Theater mit dem Barbier
von Sevilla eroͤffnet, welches ich noch ſehen will; dann
aber gedenke ich ernſtlich abzureiſen. Das Wetter ſcheint
ſich auch aufklaͤren und mich beguͤnſtigen zu wollen. Es
hat hier geregnet ſeit Ihrem Geburtstage, wo es ſchon
morgens fruͤh mit Gewittern anfing, die den ganzen
Tag, in der Richtung von Lyon her, die Rhone herauf
uͤber den See zogen nach Lauſanne zu, ſo daß es faſt
den ganzen Tag donnerte. Ich habe ein Zimmer fuͤr
16 Sous taͤglich, das mir die ſchoͤnſte Ausſicht auf den
See und das Gebirge gewaͤhrt. Geſtern regnete es
unten, es war kalt, und die hoͤchſten Spitzen des Jura
zeigten ſich nach vorbeygezogenem Schauer zum erſten
Mal weiß mit Schnee, der aber heute ſchon wieder ver¬
ſchwunden iſt. Die Vorgebirge des Montblanc fangen
ſchon an ſich mit bleibendem Weiß zu umhuͤllen; an der
Kuͤſte des See's hinauf, in dem Gruͤn der reichen Ve¬
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/247>, abgerufen am 21.11.2024.
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