vorzugreifen. Lesen Sie nur, und Sie werden sehen, daß man dabei zu allerlei Gedanken kommt."
Mittwoch, den 28. März 1827.
Ich brachte Goethen das Buch von Hinrichs zurück, das ich indeß eifrig gelesen. Auch hatte ich sämmtliche Stücke des Sophokles abermals durchgenommen, um im vollkommenen Besitz des Gegenstandes zu seyn.
"Nun? sagte Goethe, wie haben Sie ihn gefunden? Nicht wahr? er geht den Dingen zu Leibe."
Ganz wunderlich, sagte ich, geht es mir mit diesem Buche. -- Es hat keins so viele Gedanken in mir angeregt als dieses, und doch bin ich mit keinem so oft in Widerspruch gerathen, als gerade mit diesem.
"Das ist's eben! sagte Goethe. -- Das Gleiche läßt uns in Ruhe; aber der Widerspruch ist es, der uns productiv macht."
Seine Intentionen, sagte ich, sind mir im hohen Grade respectabel erschienen; auch haftet er keineswegs an der Oberfläche der Dinge. Allein er verliert sich oft so sehr im Feinen und Innerlichen der Verhältnisse, und zwar auf so subjective Weise, daß er darüber die wahre Anschauung des Gegenstandes im Einzelnen, wie die Uebersicht des Ganzen verliert, und man in den Fall kommt, sich und den Gegenständen Gewalt anthun zu müssen, um so zu denken wie er. -- Auch ist es mir oft vorgekommen, als wären meine Organe zu
vorzugreifen. Leſen Sie nur, und Sie werden ſehen, daß man dabei zu allerlei Gedanken kommt.“
Mittwoch, den 28. März 1827.
Ich brachte Goethen das Buch von Hinrichs zurück, das ich indeß eifrig geleſen. Auch hatte ich ſämmtliche Stücke des Sophokles abermals durchgenommen, um im vollkommenen Beſitz des Gegenſtandes zu ſeyn.
„Nun? ſagte Goethe, wie haben Sie ihn gefunden? Nicht wahr? er geht den Dingen zu Leibe.“
Ganz wunderlich, ſagte ich, geht es mir mit dieſem Buche. — Es hat keins ſo viele Gedanken in mir angeregt als dieſes, und doch bin ich mit keinem ſo oft in Widerſpruch gerathen, als gerade mit dieſem.
„Das iſt's eben! ſagte Goethe. — Das Gleiche läßt uns in Ruhe; aber der Widerſpruch iſt es, der uns productiv macht.“
Seine Intentionen, ſagte ich, ſind mir im hohen Grade reſpectabel erſchienen; auch haftet er keineswegs an der Oberfläche der Dinge. Allein er verliert ſich oft ſo ſehr im Feinen und Innerlichen der Verhältniſſe, und zwar auf ſo ſubjective Weiſe, daß er darüber die wahre Anſchauung des Gegenſtandes im Einzelnen, wie die Ueberſicht des Ganzen verliert, und man in den Fall kommt, ſich und den Gegenſtänden Gewalt anthun zu müſſen, um ſo zu denken wie er. — Auch iſt es mir oft vorgekommen, als wären meine Organe zu
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0144"n="122"/>
vorzugreifen. Leſen Sie nur, und Sie werden ſehen,<lb/>
daß man dabei zu allerlei Gedanken kommt.“</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="4"><datelinerendition="#right">Mittwoch, den 28. März 1827.<lb/></dateline><p>Ich brachte Goethen das Buch von Hinrichs zurück,<lb/>
das ich indeß eifrig geleſen. Auch hatte ich ſämmtliche<lb/>
Stücke des Sophokles abermals durchgenommen, um<lb/>
im vollkommenen Beſitz des Gegenſtandes zu ſeyn.</p><lb/><p>„Nun? ſagte Goethe, wie haben Sie ihn gefunden?<lb/>
Nicht wahr? er geht den Dingen zu Leibe.“</p><lb/><p>Ganz wunderlich, ſagte ich, geht es mir mit dieſem<lb/>
Buche. — Es hat keins ſo viele Gedanken in mir<lb/>
angeregt als dieſes, und doch bin ich mit keinem ſo<lb/>
oft in Widerſpruch gerathen, als gerade mit dieſem.</p><lb/><p>„Das iſt's eben! ſagte Goethe. — Das Gleiche<lb/>
läßt uns in Ruhe; aber der Widerſpruch iſt es, der<lb/>
uns productiv macht.“</p><lb/><p>Seine Intentionen, ſagte ich, ſind mir im hohen<lb/>
Grade reſpectabel erſchienen; auch haftet er keineswegs<lb/>
an der Oberfläche der Dinge. Allein er verliert ſich<lb/>
oft ſo ſehr im Feinen und Innerlichen der Verhältniſſe,<lb/>
und zwar auf ſo ſubjective Weiſe, daß er darüber die<lb/>
wahre Anſchauung des Gegenſtandes im Einzelnen, wie<lb/>
die Ueberſicht des Ganzen verliert, und man in den<lb/>
Fall kommt, ſich und den Gegenſtänden Gewalt anthun<lb/>
zu müſſen, um ſo zu denken wie er. — Auch iſt es<lb/>
mir oft vorgekommen, als wären meine Organe zu<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[122/0144]
vorzugreifen. Leſen Sie nur, und Sie werden ſehen,
daß man dabei zu allerlei Gedanken kommt.“
Mittwoch, den 28. März 1827.
Ich brachte Goethen das Buch von Hinrichs zurück,
das ich indeß eifrig geleſen. Auch hatte ich ſämmtliche
Stücke des Sophokles abermals durchgenommen, um
im vollkommenen Beſitz des Gegenſtandes zu ſeyn.
„Nun? ſagte Goethe, wie haben Sie ihn gefunden?
Nicht wahr? er geht den Dingen zu Leibe.“
Ganz wunderlich, ſagte ich, geht es mir mit dieſem
Buche. — Es hat keins ſo viele Gedanken in mir
angeregt als dieſes, und doch bin ich mit keinem ſo
oft in Widerſpruch gerathen, als gerade mit dieſem.
„Das iſt's eben! ſagte Goethe. — Das Gleiche
läßt uns in Ruhe; aber der Widerſpruch iſt es, der
uns productiv macht.“
Seine Intentionen, ſagte ich, ſind mir im hohen
Grade reſpectabel erſchienen; auch haftet er keineswegs
an der Oberfläche der Dinge. Allein er verliert ſich
oft ſo ſehr im Feinen und Innerlichen der Verhältniſſe,
und zwar auf ſo ſubjective Weiſe, daß er darüber die
wahre Anſchauung des Gegenſtandes im Einzelnen, wie
die Ueberſicht des Ganzen verliert, und man in den
Fall kommt, ſich und den Gegenſtänden Gewalt anthun
zu müſſen, um ſo zu denken wie er. — Auch iſt es
mir oft vorgekommen, als wären meine Organe zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/144>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.