und Bruder, bekannter- und unbekannterweise, die sinnlichste Neigung stattgefunden."
"Ueberhaupt, fuhr Goethe fort, werden Sie be¬ merkt haben, daß Hinrichs bei Betrachtung der griechischen Tragödie ganz von der Idee ausgeht, und daß er sich auch den Sophokles als einen Solchen denkt, der bei Erfindung und Anordnung seiner Stücke gleichfalls von einer Idee ausging und danach seine Charaktere und deren Geschlecht und Stand bestimmte. Sophokles ging aber bei seinen Stücken keineswegs von einer Idee aus, vielmehr ergriff er irgend eine längst fertige Sage seines Volkes, worin bereits eine gute Idee vorhanden, und dachte nur darauf, diese für das Theater so gut und wirksam als möglich darzustellen. Den Ajas wollen die Atreiden auch nicht beerdigen lassen; aber so wie in der Antigone die Schwester für den Bruder strebt, so strebt im Ajas der Bruder für den Bruder. Daß sich des unbeerdigten Polineikes die Schwester und des gefallenen Ajas der Bruder an¬ nimmt, ist zufällig und gehört nicht der Erfindung des Dichters, sondern der Ueberlieferung, welcher der Dichter folgte und folgen mußte."
Auch was er über die Handlungsweise des Kreon sagt, versetzte ich, scheint ebensowenig Stich zu halten. Er sucht durchzuführen, daß dieser bei dem Verbot der Beerdigung des Polineikes aus reiner Staatstugend handele; und da nun Kreon nicht bloß ein Mann,
und Bruder, bekannter- und unbekannterweiſe, die ſinnlichſte Neigung ſtattgefunden.“
„Ueberhaupt, fuhr Goethe fort, werden Sie be¬ merkt haben, daß Hinrichs bei Betrachtung der griechiſchen Tragödie ganz von der Idee ausgeht, und daß er ſich auch den Sophokles als einen Solchen denkt, der bei Erfindung und Anordnung ſeiner Stücke gleichfalls von einer Idee ausging und danach ſeine Charaktere und deren Geſchlecht und Stand beſtimmte. Sophokles ging aber bei ſeinen Stücken keineswegs von einer Idee aus, vielmehr ergriff er irgend eine längſt fertige Sage ſeines Volkes, worin bereits eine gute Idee vorhanden, und dachte nur darauf, dieſe für das Theater ſo gut und wirkſam als möglich darzuſtellen. Den Ajas wollen die Atreiden auch nicht beerdigen laſſen; aber ſo wie in der Antigone die Schweſter für den Bruder ſtrebt, ſo ſtrebt im Ajas der Bruder für den Bruder. Daß ſich des unbeerdigten Polineikes die Schweſter und des gefallenen Ajas der Bruder an¬ nimmt, iſt zufällig und gehört nicht der Erfindung des Dichters, ſondern der Ueberlieferung, welcher der Dichter folgte und folgen mußte.“
Auch was er über die Handlungsweiſe des Kreon ſagt, verſetzte ich, ſcheint ebenſowenig Stich zu halten. Er ſucht durchzuführen, daß dieſer bei dem Verbot der Beerdigung des Polineikes aus reiner Staatstugend handele; und da nun Kreon nicht bloß ein Mann,
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und Bruder, bekannter- und unbekannterweiſe, die
ſinnlichſte Neigung ſtattgefunden.“
„Ueberhaupt, fuhr Goethe fort, werden Sie be¬
merkt haben, daß Hinrichs bei Betrachtung der griechiſchen
Tragödie ganz von der Idee ausgeht, und daß er ſich
auch den Sophokles als einen Solchen denkt, der bei
Erfindung und Anordnung ſeiner Stücke gleichfalls von
einer Idee ausging und danach ſeine Charaktere und
deren Geſchlecht und Stand beſtimmte. Sophokles
ging aber bei ſeinen Stücken keineswegs von einer
Idee aus, vielmehr ergriff er irgend eine längſt fertige
Sage ſeines Volkes, worin bereits eine gute Idee
vorhanden, und dachte nur darauf, dieſe für das Theater
ſo gut und wirkſam als möglich darzuſtellen. Den
Ajas wollen die Atreiden auch nicht beerdigen laſſen;
aber ſo wie in der Antigone die Schweſter für den
Bruder ſtrebt, ſo ſtrebt im Ajas der Bruder für den
Bruder. Daß ſich des unbeerdigten Polineikes die
Schweſter und des gefallenen Ajas der Bruder an¬
nimmt, iſt zufällig und gehört nicht der Erfindung des
Dichters, ſondern der Ueberlieferung, welcher der Dichter
folgte und folgen mußte.“
Auch was er über die Handlungsweiſe des Kreon
ſagt, verſetzte ich, ſcheint ebenſowenig Stich zu halten.
Er ſucht durchzuführen, daß dieſer bei dem Verbot der
Beerdigung des Polineikes aus reiner Staatstugend
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/148>, abgerufen am 24.11.2024.
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