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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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die herrlichsten Gründe für ihre Handlung ausge¬
sprochen und den Edelmuth der reinsten Seele ent¬
wickelt hat, bringt sie zuletzt, als sie zum Tode geht,
ein Motiv vor, das ganz schlecht ist und fast an's
Komische streift."

"Sie sagt, daß sie das, was sie für ihren Bruder
gethan, wenn sie Mutter gewesen wäre, nicht für ihre
gestorbenen Kinder und nicht für ihren gestorbenen
Gatten gethan haben würde. Denn, sagt sie, wäre
mir ein Gatte gestorben, so hätte ich einen anderen ge¬
nommen, und wären mir Kinder gestorben, so hätte
ich mir von dem neuen Gatten andere Kinder zeugen
lassen. Allein mit meinem Bruder ist es ein Anderes.
Einen Bruder kann ich nicht wieder bekommen, denn
da mein Vater und meine Mutter todt sind, so ist
Niemand da, der ihn zeugen könnte."

"Dieß ist wenigstens der nackte Sinn dieser Stelle,
die nach meinem Gefühl in dem Munde einer zum
Tode gehenden Heldin die tragische Stimmung stört,
und die mir überhaupt sehr gesucht und gar zu sehr
als ein dialektisches Calcül erscheint. -- Wie gesagt,
ich möchte sehr gerne, daß ein guter Philologe uns
bewiese, die Stelle sey unächt."

Wir sprachen darauf über Sophokles weiter und
daß er bei seinen Stücken weniger eine sittliche Tendenz
vor Augen gehabt, als eine tüchtige Behandlung seines

III. 9

die herrlichſten Gründe für ihre Handlung ausge¬
ſprochen und den Edelmuth der reinſten Seele ent¬
wickelt hat, bringt ſie zuletzt, als ſie zum Tode geht,
ein Motiv vor, das ganz ſchlecht iſt und faſt an's
Komiſche ſtreift.“

„Sie ſagt, daß ſie das, was ſie für ihren Bruder
gethan, wenn ſie Mutter geweſen wäre, nicht für ihre
geſtorbenen Kinder und nicht für ihren geſtorbenen
Gatten gethan haben würde. Denn, ſagt ſie, wäre
mir ein Gatte geſtorben, ſo hätte ich einen anderen ge¬
nommen, und wären mir Kinder geſtorben, ſo hätte
ich mir von dem neuen Gatten andere Kinder zeugen
laſſen. Allein mit meinem Bruder iſt es ein Anderes.
Einen Bruder kann ich nicht wieder bekommen, denn
da mein Vater und meine Mutter todt ſind, ſo iſt
Niemand da, der ihn zeugen könnte.“

„Dieß iſt wenigſtens der nackte Sinn dieſer Stelle,
die nach meinem Gefühl in dem Munde einer zum
Tode gehenden Heldin die tragiſche Stimmung ſtört,
und die mir überhaupt ſehr geſucht und gar zu ſehr
als ein dialektiſches Calcül erſcheint. — Wie geſagt,
ich möchte ſehr gerne, daß ein guter Philologe uns
bewieſe, die Stelle ſey unächt.“

Wir ſprachen darauf über Sophokles weiter und
daß er bei ſeinen Stücken weniger eine ſittliche Tendenz
vor Augen gehabt, als eine tüchtige Behandlung ſeines

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[129/0151] die herrlichſten Gründe für ihre Handlung ausge¬ ſprochen und den Edelmuth der reinſten Seele ent¬ wickelt hat, bringt ſie zuletzt, als ſie zum Tode geht, ein Motiv vor, das ganz ſchlecht iſt und faſt an's Komiſche ſtreift.“ „Sie ſagt, daß ſie das, was ſie für ihren Bruder gethan, wenn ſie Mutter geweſen wäre, nicht für ihre geſtorbenen Kinder und nicht für ihren geſtorbenen Gatten gethan haben würde. Denn, ſagt ſie, wäre mir ein Gatte geſtorben, ſo hätte ich einen anderen ge¬ nommen, und wären mir Kinder geſtorben, ſo hätte ich mir von dem neuen Gatten andere Kinder zeugen laſſen. Allein mit meinem Bruder iſt es ein Anderes. Einen Bruder kann ich nicht wieder bekommen, denn da mein Vater und meine Mutter todt ſind, ſo iſt Niemand da, der ihn zeugen könnte.“ „Dieß iſt wenigſtens der nackte Sinn dieſer Stelle, die nach meinem Gefühl in dem Munde einer zum Tode gehenden Heldin die tragiſche Stimmung ſtört, und die mir überhaupt ſehr geſucht und gar zu ſehr als ein dialektiſches Calcül erſcheint. — Wie geſagt, ich möchte ſehr gerne, daß ein guter Philologe uns bewieſe, die Stelle ſey unächt.“ Wir ſprachen darauf über Sophokles weiter und daß er bei ſeinen Stücken weniger eine ſittliche Tendenz vor Augen gehabt, als eine tüchtige Behandlung ſeines III. 9

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/151>, abgerufen am 24.11.2024.