keine Ader hat, er kann ihn nicht ausstehen. Der Misanthrop, den ich, als eins meiner liebsten Stücke in der Welt, immer wieder lese, ist ihm zuwider; den Tartüff lobt er gezwungenerweise ein Bißchen, aber er setzt ihn sogleich wieder herab, so viel er nur kann. Daß Moliere die Affectationen gelehrter Frauen lächer¬ lich gemacht, kann Schlegel ihm nicht verzeihen; er fühlt wahrscheinlich, wie einer meiner Freunde bemerkte, daß er ihn selbst lächerlich gemacht haben würde, wenn er mit ihm gelebt hätte."
"Es ist nicht zu läugnen, fuhr Göthe fort, Schlegel weiß unendlich viel, und man erschrickt fast über seine außerordentlichen Kenntnisse und seine große Belesenheit. Allein damit ist es nicht gethan. Alle Gelehrsamkeit ist noch kein Urtheil. Seine Kritik ist durchaus ein¬ seitig, indem er fast bei allen Theaterstücken bloß das Skelett der Fabel und Anordnung vor Augen hat, und immer nur kleine Aehnlichkeiten mit großen Vorgängern nachweiset, ohne sich im Mindesten darum zu beküm¬ mern, was der Autor uns von anmuthigem Leben und Bildung einer hohen Seele entgegenbringt. Was helfen aber alle Künste des Talents, wenn aus einem Theater¬ stücke uns nicht eine liebenswürdige oder große Per¬ sönlichkeit des Autors entgegenkommt! dieses Einzige, was in die Cultur des Volkes übergeht."
"In der Art und Weise, wie Schlegel, das Fran¬ zösische Theater behandelt, finde ich das Recept zu
keine Ader hat, er kann ihn nicht ausſtehen. Der Miſanthrop, den ich, als eins meiner liebſten Stücke in der Welt, immer wieder leſe, iſt ihm zuwider; den Tartüff lobt er gezwungenerweiſe ein Bißchen, aber er ſetzt ihn ſogleich wieder herab, ſo viel er nur kann. Daß Molière die Affectationen gelehrter Frauen lächer¬ lich gemacht, kann Schlegel ihm nicht verzeihen; er fühlt wahrſcheinlich, wie einer meiner Freunde bemerkte, daß er ihn ſelbſt lächerlich gemacht haben würde, wenn er mit ihm gelebt hätte.“
„Es iſt nicht zu läugnen, fuhr Göthe fort, Schlegel weiß unendlich viel, und man erſchrickt faſt über ſeine außerordentlichen Kenntniſſe und ſeine große Beleſenheit. Allein damit iſt es nicht gethan. Alle Gelehrſamkeit iſt noch kein Urtheil. Seine Kritik iſt durchaus ein¬ ſeitig, indem er faſt bei allen Theaterſtücken bloß das Skelett der Fabel und Anordnung vor Augen hat, und immer nur kleine Aehnlichkeiten mit großen Vorgängern nachweiſet, ohne ſich im Mindeſten darum zu beküm¬ mern, was der Autor uns von anmuthigem Leben und Bildung einer hohen Seele entgegenbringt. Was helfen aber alle Künſte des Talents, wenn aus einem Theater¬ ſtücke uns nicht eine liebenswürdige oder große Per¬ ſönlichkeit des Autors entgegenkommt! dieſes Einzige, was in die Cultur des Volkes übergeht.“
„In der Art und Weiſe, wie Schlegel, das Fran¬ zöſiſche Theater behandelt, finde ich das Recept zu
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keine Ader hat, er kann ihn nicht ausſtehen. Der
Miſanthrop, den ich, als eins meiner liebſten Stücke in
der Welt, immer wieder leſe, iſt ihm zuwider; den
Tartüff lobt er gezwungenerweiſe ein Bißchen, aber
er ſetzt ihn ſogleich wieder herab, ſo viel er nur kann.
Daß Molière die Affectationen gelehrter Frauen lächer¬
lich gemacht, kann Schlegel ihm nicht verzeihen; er
fühlt wahrſcheinlich, wie einer meiner Freunde bemerkte,
daß er ihn ſelbſt lächerlich gemacht haben würde, wenn
er mit ihm gelebt hätte.“
„Es iſt nicht zu läugnen, fuhr Göthe fort, Schlegel
weiß unendlich viel, und man erſchrickt faſt über ſeine
außerordentlichen Kenntniſſe und ſeine große Beleſenheit.
Allein damit iſt es nicht gethan. Alle Gelehrſamkeit
iſt noch kein Urtheil. Seine Kritik iſt durchaus ein¬
ſeitig, indem er faſt bei allen Theaterſtücken bloß das
Skelett der Fabel und Anordnung vor Augen hat, und
immer nur kleine Aehnlichkeiten mit großen Vorgängern
nachweiſet, ohne ſich im Mindeſten darum zu beküm¬
mern, was der Autor uns von anmuthigem Leben und
Bildung einer hohen Seele entgegenbringt. Was helfen
aber alle Künſte des Talents, wenn aus einem Theater¬
ſtücke uns nicht eine liebenswürdige oder große Per¬
ſönlichkeit des Autors entgegenkommt! dieſes Einzige,
was in die Cultur des Volkes übergeht.“
„In der Art und Weiſe, wie Schlegel, das Fran¬
zöſiſche Theater behandelt, finde ich das Recept zu
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/157>, abgerufen am 24.11.2024.
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