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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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"Recht wohl, erwiederte Goethe; doch müßte man
zuvor aussprechen, was man unter dem Gipfel der
natürlichen Entwickelung wolle verstanden haben."

Ich würde damit, erwiederte ich, diejenige Periode
des Wachsthums bezeichnen, wo der Charakter, der
diesem oder jenem Geschöpf eigenthümlich ist, vollkom¬
men ausgeprägt erscheint.

"In diesem Sinne, erwiederte Goethe, wäre nichts
dagegen einzuwenden, besonders wenn man noch hinzu¬
fügte, daß zu solchem vollkommen ausgeprägten Cha¬
rakter zugleich gehöre, daß der Bau der verschiedenen
Glieder eines Geschöpfes dessen Naturbestimmung an¬
gemessen und also zweckmäßig sey."

"So wäre z. B. ein mannbares Mädchen, dessen
Naturbestimmung ist, Kinder zu gebären und Kinder zu
säugen, nicht schön ohne gehörige Breite des Beckens
und ohne gehörige Fülle der Brüste. Doch wäre auch
ein Zuviel nicht schön, denn das würde über das Zweck¬
mäßige hinausgehen."

"Warum konnten wir vorhin einige der Reitpferde,
die uns begegneten, schön nennen, als eben wegen der
Zweckmäßigkeit ihres Baues. Es war nicht bloß das
Zierliche, Leichte, Graziöse ihrer Bewegungen, sondern
noch etwas mehr, worüber ein guter Reiter und Pferde¬
kenner reden müßte und wovon wir Anderen bloß den
allgemeinen Eindruck empfinden."

Könnte man nicht auch, sagte ich, einen Karrengaul

„Recht wohl, erwiederte Goethe; doch müßte man
zuvor ausſprechen, was man unter dem Gipfel der
natürlichen Entwickelung wolle verſtanden haben.“

Ich würde damit, erwiederte ich, diejenige Periode
des Wachsthums bezeichnen, wo der Charakter, der
dieſem oder jenem Geſchöpf eigenthümlich iſt, vollkom¬
men ausgeprägt erſcheint.

„In dieſem Sinne, erwiederte Goethe, wäre nichts
dagegen einzuwenden, beſonders wenn man noch hinzu¬
fügte, daß zu ſolchem vollkommen ausgeprägten Cha¬
rakter zugleich gehöre, daß der Bau der verſchiedenen
Glieder eines Geſchöpfes deſſen Naturbeſtimmung an¬
gemeſſen und alſo zweckmäßig ſey.“

„So wäre z. B. ein mannbares Mädchen, deſſen
Naturbeſtimmung iſt, Kinder zu gebären und Kinder zu
ſäugen, nicht ſchön ohne gehörige Breite des Beckens
und ohne gehörige Fülle der Brüſte. Doch wäre auch
ein Zuviel nicht ſchön, denn das würde über das Zweck¬
mäßige hinausgehen.“

„Warum konnten wir vorhin einige der Reitpferde,
die uns begegneten, ſchön nennen, als eben wegen der
Zweckmäßigkeit ihres Baues. Es war nicht bloß das
Zierliche, Leichte, Graziöſe ihrer Bewegungen, ſondern
noch etwas mehr, worüber ein guter Reiter und Pferde¬
kenner reden müßte und wovon wir Anderen bloß den
allgemeinen Eindruck empfinden.“

Könnte man nicht auch, ſagte ich, einen Karrengaul

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[149/0171] „Recht wohl, erwiederte Goethe; doch müßte man zuvor ausſprechen, was man unter dem Gipfel der natürlichen Entwickelung wolle verſtanden haben.“ Ich würde damit, erwiederte ich, diejenige Periode des Wachsthums bezeichnen, wo der Charakter, der dieſem oder jenem Geſchöpf eigenthümlich iſt, vollkom¬ men ausgeprägt erſcheint. „In dieſem Sinne, erwiederte Goethe, wäre nichts dagegen einzuwenden, beſonders wenn man noch hinzu¬ fügte, daß zu ſolchem vollkommen ausgeprägten Cha¬ rakter zugleich gehöre, daß der Bau der verſchiedenen Glieder eines Geſchöpfes deſſen Naturbeſtimmung an¬ gemeſſen und alſo zweckmäßig ſey.“ „So wäre z. B. ein mannbares Mädchen, deſſen Naturbeſtimmung iſt, Kinder zu gebären und Kinder zu ſäugen, nicht ſchön ohne gehörige Breite des Beckens und ohne gehörige Fülle der Brüſte. Doch wäre auch ein Zuviel nicht ſchön, denn das würde über das Zweck¬ mäßige hinausgehen.“ „Warum konnten wir vorhin einige der Reitpferde, die uns begegneten, ſchön nennen, als eben wegen der Zweckmäßigkeit ihres Baues. Es war nicht bloß das Zierliche, Leichte, Graziöſe ihrer Bewegungen, ſondern noch etwas mehr, worüber ein guter Reiter und Pferde¬ kenner reden müßte und wovon wir Anderen bloß den allgemeinen Eindruck empfinden.“ Könnte man nicht auch, ſagte ich, einen Karrengaul

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/171>, abgerufen am 25.11.2024.