Ganzen recht wohl Ihrer Meinung, daß eine jugendlich¬ tüchtige Production leichter sey, als ein jugendlich-tüch¬ tiges Urtheil. Allein in Deutschland soll Einer es wohl bleiben lassen, so jung wie Merimee etwas so Reifes hervorzubringen, als er in den Stücken seiner Clara Gazul gethan. Es ist wahr, Schiller war recht jung, als er seine Räuber, seine Kabale und Liebe und seinen Fiesco schrieb. Allein, wenn wir aufrichtig seyn wollen, so sind doch alle diese Stücke mehr Aeußerun¬ gen eines außergewöhnlichen Talents, als daß sie von großer Bildungsreife des Autors zeugten. Daran ist aber nicht Schiller Schuld, sondern der Culturzustand seiner Nation und die große Schwierigkeit, die wir Alle erfahren, uns auf einsamem Wege durchzuhelfen."
"Nehmen Sie dagegen Beranger. Er ist der Sohn armer Eltern, der Abkömmling eines armen Schneiders, dann armer Buchdrucker-Lehrling, dann mit kleinem Gehalte angestellt in irgend einem Bureau; er hat nie eine gelehrte Schule, nie eine Universität besucht, und doch sind seine Lieder so voll reifer Bildung, so voll Grazie, so voll Geist und feinster Ironie, und von einer solchen Kunstvollendung und meisterhaften Be¬ handlung der Sprache, daß er nicht bloß die Bewun¬ derung von Frankreich, sondern des ganzen gebildeten Europa's ist."
"Denken Sie sich aber diesen selben Beranger, an¬ statt in Paris geboren und in dieser Weltstadt heran¬
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Ganzen recht wohl Ihrer Meinung, daß eine jugendlich¬ tüchtige Production leichter ſey, als ein jugendlich-tüch¬ tiges Urtheil. Allein in Deutſchland ſoll Einer es wohl bleiben laſſen, ſo jung wie Mérimée etwas ſo Reifes hervorzubringen, als er in den Stücken ſeiner Clara Gazul gethan. Es iſt wahr, Schiller war recht jung, als er ſeine Räuber, ſeine Kabale und Liebe und ſeinen Fiesco ſchrieb. Allein, wenn wir aufrichtig ſeyn wollen, ſo ſind doch alle dieſe Stücke mehr Aeußerun¬ gen eines außergewöhnlichen Talents, als daß ſie von großer Bildungsreife des Autors zeugten. Daran iſt aber nicht Schiller Schuld, ſondern der Culturzuſtand ſeiner Nation und die große Schwierigkeit, die wir Alle erfahren, uns auf einſamem Wege durchzuhelfen.“
„Nehmen Sie dagegen Béranger. Er iſt der Sohn armer Eltern, der Abkömmling eines armen Schneiders, dann armer Buchdrucker-Lehrling, dann mit kleinem Gehalte angeſtellt in irgend einem Bureau; er hat nie eine gelehrte Schule, nie eine Univerſität beſucht, und doch ſind ſeine Lieder ſo voll reifer Bildung, ſo voll Grazie, ſo voll Geiſt und feinſter Ironie, und von einer ſolchen Kunſtvollendung und meiſterhaften Be¬ handlung der Sprache, daß er nicht bloß die Bewun¬ derung von Frankreich, ſondern des ganzen gebildeten Europa's iſt.“
„Denken Sie ſich aber dieſen ſelben Béranger, an¬ ſtatt in Paris geboren und in dieſer Weltſtadt heran¬
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Ganzen recht wohl Ihrer Meinung, daß eine jugendlich¬
tüchtige Production leichter ſey, als ein jugendlich-tüch¬
tiges Urtheil. Allein in Deutſchland ſoll Einer es
wohl bleiben laſſen, ſo jung wie Mérimée etwas ſo
Reifes hervorzubringen, als er in den Stücken ſeiner
Clara Gazul gethan. Es iſt wahr, Schiller war recht
jung, als er ſeine Räuber, ſeine Kabale und Liebe und
ſeinen Fiesco ſchrieb. Allein, wenn wir aufrichtig ſeyn
wollen, ſo ſind doch alle dieſe Stücke mehr Aeußerun¬
gen eines außergewöhnlichen Talents, als daß ſie von
großer Bildungsreife des Autors zeugten. Daran iſt
aber nicht Schiller Schuld, ſondern der Culturzuſtand
ſeiner Nation und die große Schwierigkeit, die wir Alle
erfahren, uns auf einſamem Wege durchzuhelfen.“
„Nehmen Sie dagegen B é ranger. Er iſt der Sohn
armer Eltern, der Abkömmling eines armen Schneiders,
dann armer Buchdrucker-Lehrling, dann mit kleinem
Gehalte angeſtellt in irgend einem Bureau; er hat nie
eine gelehrte Schule, nie eine Univerſität beſucht, und
doch ſind ſeine Lieder ſo voll reifer Bildung, ſo voll
Grazie, ſo voll Geiſt und feinſter Ironie, und von
einer ſolchen Kunſtvollendung und meiſterhaften Be¬
handlung der Sprache, daß er nicht bloß die Bewun¬
derung von Frankreich, ſondern des ganzen gebildeten
Europa's iſt.“
„Denken Sie ſich aber dieſen ſelben Béranger, an¬
ſtatt in Paris geboren und in dieſer Weltſtadt heran¬
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/185>, abgerufen am 24.11.2024.
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