voller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir darbot; und ich hatte als Poet weiter nichts zu thun, als solche Anschauun¬ gen und Eindrücke in mir künstlerisch zu runden und auszubilden und durch eine lebendige Darstellung so zum Vorschein zu bringen, daß Andere dieselbigen Ein¬ drücke erhielten, wenn sie mein Dargestelltes hörten oder lasen."
"Wollte ich jedoch einmal als Poet irgend eine Idee darstellen, so that ich es in kleinen Gedichten, wo eine entschiedene Einheit herrschen konnte und wel¬ ches zu übersehen war, wie z. B. die Metamorphose der Thiere, die der Pflanze, das Gedicht Ver¬ mächtniß, und viele anderen. Das einzige Product von größerem Umfang, wo ich mir bewußt bin, nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben, wären etwa meine Wahlverwandtschaften. Der Roman ist dadurch für den Verstand faßlich ge¬ worden; aber ich will nicht sagen, daß er dadurch besser geworden wäre! Vielmehr bin ich der Mei¬ nung: je incommensurabeler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produc¬ tion, desto besser."
Dienstag, den 15. Mai 1827.
Herr von Holtey, aus Paris kommend, ist seit einiger Zeit hier und wegen seiner Person und Talente
voller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir darbot; und ich hatte als Poet weiter nichts zu thun, als ſolche Anſchauun¬ gen und Eindrücke in mir künſtleriſch zu runden und auszubilden und durch eine lebendige Darſtellung ſo zum Vorſchein zu bringen, daß Andere dieſelbigen Ein¬ drücke erhielten, wenn ſie mein Dargeſtelltes hörten oder laſen.“
„Wollte ich jedoch einmal als Poet irgend eine Idee darſtellen, ſo that ich es in kleinen Gedichten, wo eine entſchiedene Einheit herrſchen konnte und wel¬ ches zu überſehen war, wie z. B. die Metamorphoſe der Thiere, die der Pflanze, das Gedicht Ver¬ mächtniß, und viele anderen. Das einzige Product von größerem Umfang, wo ich mir bewußt bin, nach Darſtellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben, wären etwa meine Wahlverwandtſchaften. Der Roman iſt dadurch für den Verſtand faßlich ge¬ worden; aber ich will nicht ſagen, daß er dadurch beſſer geworden wäre! Vielmehr bin ich der Mei¬ nung: je incommenſurabeler und für den Verſtand unfaßlicher eine poetiſche Produc¬ tion, deſto beſſer.“
Dienſtag, den 15. Mai 1827.
Herr von Holtey, aus Paris kommend, iſt ſeit einiger Zeit hier und wegen ſeiner Perſon und Talente
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0195"n="173"/>
voller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine<lb/>
rege Einbildungskraft es mir darbot; und ich hatte<lb/>
als Poet weiter nichts zu thun, als ſolche Anſchauun¬<lb/>
gen und Eindrücke in mir künſtleriſch zu runden und<lb/>
auszubilden und durch eine lebendige Darſtellung ſo<lb/>
zum Vorſchein zu bringen, daß Andere dieſelbigen Ein¬<lb/>
drücke erhielten, wenn ſie mein Dargeſtelltes hörten<lb/>
oder laſen.“</p><lb/><p>„Wollte ich jedoch einmal als Poet irgend eine<lb/>
Idee darſtellen, ſo that ich es in <hirendition="#g">kleinen</hi> Gedichten,<lb/>
wo eine entſchiedene Einheit herrſchen konnte und wel¬<lb/>
ches zu überſehen war, wie z. B. die Metamorphoſe<lb/>
der <hirendition="#g">Thiere</hi>, die der <hirendition="#g">Pflanze</hi>, das Gedicht <hirendition="#g">Ver¬<lb/>
mächtniß</hi>, und viele anderen. Das einzige Product<lb/>
von <hirendition="#g">größerem</hi> Umfang, wo ich mir bewußt bin, nach<lb/>
Darſtellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu<lb/>
haben, wären etwa meine <hirendition="#g">Wahlverwandtſchaften</hi>.<lb/>
Der Roman iſt dadurch für den Verſtand faßlich ge¬<lb/>
worden; aber ich will nicht ſagen, daß er dadurch<lb/><hirendition="#g">beſſer</hi> geworden wäre! Vielmehr bin ich der Mei¬<lb/>
nung: <hirendition="#g">je incommenſurabeler und für den<lb/>
Verſtand unfaßlicher eine poetiſche Produc¬<lb/>
tion</hi>, <hirendition="#g">deſto beſſer</hi>.“</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="4"><datelinerendition="#right">Dienſtag, den 15. Mai 1827.<lb/></dateline><p>Herr von <hirendition="#g">Holtey</hi>, aus Paris kommend, iſt ſeit<lb/>
einiger Zeit hier und wegen ſeiner Perſon und Talente<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[173/0195]
voller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine
rege Einbildungskraft es mir darbot; und ich hatte
als Poet weiter nichts zu thun, als ſolche Anſchauun¬
gen und Eindrücke in mir künſtleriſch zu runden und
auszubilden und durch eine lebendige Darſtellung ſo
zum Vorſchein zu bringen, daß Andere dieſelbigen Ein¬
drücke erhielten, wenn ſie mein Dargeſtelltes hörten
oder laſen.“
„Wollte ich jedoch einmal als Poet irgend eine
Idee darſtellen, ſo that ich es in kleinen Gedichten,
wo eine entſchiedene Einheit herrſchen konnte und wel¬
ches zu überſehen war, wie z. B. die Metamorphoſe
der Thiere, die der Pflanze, das Gedicht Ver¬
mächtniß, und viele anderen. Das einzige Product
von größerem Umfang, wo ich mir bewußt bin, nach
Darſtellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu
haben, wären etwa meine Wahlverwandtſchaften.
Der Roman iſt dadurch für den Verſtand faßlich ge¬
worden; aber ich will nicht ſagen, daß er dadurch
beſſer geworden wäre! Vielmehr bin ich der Mei¬
nung: je incommenſurabeler und für den
Verſtand unfaßlicher eine poetiſche Produc¬
tion, deſto beſſer.“
Dienſtag, den 15. Mai 1827.
Herr von Holtey, aus Paris kommend, iſt ſeit
einiger Zeit hier und wegen ſeiner Perſon und Talente
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/195>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.