klar vor uns wie der Tag, aber ihr inneres geistiges Band ist uns verschlossen."
Mit dem Kuckuck, sagte ich, ist es nicht anders. Wir wissen von ihm, daß er nicht selber brütet, sondern sein Ey in das Nest irgend eines anderen Vogels legt. Wir wissen ferner, daß er es legt: in das Nest der Grasemücke, der gelben Bachstelze, des Mönches; ferner in das Nest der Braunelle, in das Nest des Rothkehl¬ chens, und in das Nest des Zaunkönigs. Dieses wissen wir. Auch wissen wir gleichfalls, daß dieses Alles In¬ secten-Vögel sind und es seyn müssen, weil der Kuckuck selber ein Insecten-Vogel ist, und der junge Kuckuck von einem Saamen fressenden Vogel nicht könnte er¬ zogen werden. Woran aber erkennt der Kuckuck, daß dieses Alles auch wirklich Insecten-Vögel sind? da doch alle diese Genannten, sowohl in ihrer Gestalt als in ihrer Farbe, von einander so äußerst abweichen! -- und auch in ihrer Stimme und in ihren Locktönen so äußerst abweichen! -- Und ferner: wie kommt es, daß der Kuckuck sein Ey und sein zartes Junges Nestern anvertrauen kann, die in Hinsicht auf Structur und Temperatur, auf Trockenheit und Feuchte, so verschieden sind, wie nur immer möglich! -- Das Nest der Grase¬ mücke ist von dürren Grashälmchen und einigen Pferde¬ haaren so leicht gebaut, daß jede Kälte eindringt und jeder Luftzug hindurchweht, auch von oben offen und ohne Schutz; aber der junge Kuckuck gedeiht darin
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klar vor uns wie der Tag, aber ihr inneres geiſtiges Band iſt uns verſchloſſen.“
Mit dem Kuckuck, ſagte ich, iſt es nicht anders. Wir wiſſen von ihm, daß er nicht ſelber brütet, ſondern ſein Ey in das Neſt irgend eines anderen Vogels legt. Wir wiſſen ferner, daß er es legt: in das Neſt der Graſemücke, der gelben Bachſtelze, des Mönches; ferner in das Neſt der Braunelle, in das Neſt des Rothkehl¬ chens, und in das Neſt des Zaunkönigs. Dieſes wiſſen wir. Auch wiſſen wir gleichfalls, daß dieſes Alles In¬ ſecten-Vögel ſind und es ſeyn müſſen, weil der Kuckuck ſelber ein Inſecten-Vogel iſt, und der junge Kuckuck von einem Saamen freſſenden Vogel nicht könnte er¬ zogen werden. Woran aber erkennt der Kuckuck, daß dieſes Alles auch wirklich Inſecten-Vögel ſind? da doch alle dieſe Genannten, ſowohl in ihrer Geſtalt als in ihrer Farbe, von einander ſo äußerſt abweichen! — und auch in ihrer Stimme und in ihren Locktönen ſo äußerſt abweichen! — Und ferner: wie kommt es, daß der Kuckuck ſein Ey und ſein zartes Junges Neſtern anvertrauen kann, die in Hinſicht auf Structur und Temperatur, auf Trockenheit und Feuchte, ſo verſchieden ſind, wie nur immer möglich! — Das Neſt der Graſe¬ mücke iſt von dürren Grashälmchen und einigen Pferde¬ haaren ſo leicht gebaut, daß jede Kälte eindringt und jeder Luftzug hindurchweht, auch von oben offen und ohne Schutz; aber der junge Kuckuck gedeiht darin
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klar vor uns wie der Tag, aber ihr inneres geiſtiges
Band iſt uns verſchloſſen.“
Mit dem Kuckuck, ſagte ich, iſt es nicht anders.
Wir wiſſen von ihm, daß er nicht ſelber brütet, ſondern
ſein Ey in das Neſt irgend eines anderen Vogels legt.
Wir wiſſen ferner, daß er es legt: in das Neſt der
Graſemücke, der gelben Bachſtelze, des Mönches; ferner
in das Neſt der Braunelle, in das Neſt des Rothkehl¬
chens, und in das Neſt des Zaunkönigs. Dieſes wiſſen
wir. Auch wiſſen wir gleichfalls, daß dieſes Alles In¬
ſecten-Vögel ſind und es ſeyn müſſen, weil der Kuckuck
ſelber ein Inſecten-Vogel iſt, und der junge Kuckuck
von einem Saamen freſſenden Vogel nicht könnte er¬
zogen werden. Woran aber erkennt der Kuckuck, daß
dieſes Alles auch wirklich Inſecten-Vögel ſind? da
doch alle dieſe Genannten, ſowohl in ihrer Geſtalt als
in ihrer Farbe, von einander ſo äußerſt abweichen! —
und auch in ihrer Stimme und in ihren Locktönen ſo
äußerſt abweichen! — Und ferner: wie kommt es, daß
der Kuckuck ſein Ey und ſein zartes Junges Neſtern
anvertrauen kann, die in Hinſicht auf Structur und
Temperatur, auf Trockenheit und Feuchte, ſo verſchieden
ſind, wie nur immer möglich! — Das Neſt der Graſe¬
mücke iſt von dürren Grashälmchen und einigen Pferde¬
haaren ſo leicht gebaut, daß jede Kälte eindringt und
jeder Luftzug hindurchweht, auch von oben offen und
ohne Schutz; aber der junge Kuckuck gedeiht darin
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/233>, abgerufen am 16.02.2025.
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