vortrefflich. Das Nest des Zaunkönigs dagegen ist äußerlich von Moos, Halmen und Blättern dicht und fest gebaut und innen mit allerlei Wolle und Federn sorgfältig ausgefüttert, so daß kein Lüftchen hin¬ durchdringen kann. Auch ist es oben gedeckt und gewölbt und nur eine kleine Oeffnung zum Hinein- und Hinausschlüpfen des sehr kleinen Vogels gelassen. Man sollte denken, es müßte in heißen Junitagen in solcher geschlossenen Höhle eine Hitze zum Ersticken seyn. Allein der junge Kuckuck gedeiht darin auf's Beste. Und wiederum wie anders ist das Nest der gelben Bachstelze! -- Der Vogel lebt am Wasser, an Bächen und in allerlei Nassem. Er baut sein Nest auf feuchten Triften, in einem Büschel von Binsen. Er scharrt ein Loch in die feuchte Erde und legt es dürftig mit einigen Grashälmchen aus, so daß der junge Kuckuck durchaus im Feuchten und Kühlen ge¬ brütet wird und heranwachsen muß. Und dennoch ge¬ deiht er wiederum vortrefflich. Was ist das aber für ein Vogel, für den im zartesten Kindesalter Feuchtes und Trockenes, Hitze und Kälte, Abweichungen die für jeden anderen Vogel tödtlich wären, durchaus gleich¬ gültige Dinge sind. Und wie weiß der alte Kuckuck, daß sie es sind, da er doch selber im erwachsenen Alter für Nässe und Kälte so sehr empfindlich ist. --
"Wir stehen hier, erwiederte Goethe, eben vor einem Geheimniß. Aber sagen Sie mir doch, wenn Sie es
vortrefflich. Das Neſt des Zaunkönigs dagegen iſt äußerlich von Moos, Halmen und Blättern dicht und feſt gebaut und innen mit allerlei Wolle und Federn ſorgfältig ausgefüttert, ſo daß kein Lüftchen hin¬ durchdringen kann. Auch iſt es oben gedeckt und gewölbt und nur eine kleine Oeffnung zum Hinein- und Hinausſchlüpfen des ſehr kleinen Vogels gelaſſen. Man ſollte denken, es müßte in heißen Junitagen in ſolcher geſchloſſenen Höhle eine Hitze zum Erſticken ſeyn. Allein der junge Kuckuck gedeiht darin auf's Beſte. Und wiederum wie anders iſt das Neſt der gelben Bachſtelze! — Der Vogel lebt am Waſſer, an Bächen und in allerlei Naſſem. Er baut ſein Neſt auf feuchten Triften, in einem Büſchel von Binſen. Er ſcharrt ein Loch in die feuchte Erde und legt es dürftig mit einigen Grashälmchen aus, ſo daß der junge Kuckuck durchaus im Feuchten und Kühlen ge¬ brütet wird und heranwachſen muß. Und dennoch ge¬ deiht er wiederum vortrefflich. Was iſt das aber für ein Vogel, für den im zarteſten Kindesalter Feuchtes und Trockenes, Hitze und Kälte, Abweichungen die für jeden anderen Vogel tödtlich wären, durchaus gleich¬ gültige Dinge ſind. Und wie weiß der alte Kuckuck, daß ſie es ſind, da er doch ſelber im erwachſenen Alter für Näſſe und Kälte ſo ſehr empfindlich iſt. —
„Wir ſtehen hier, erwiederte Goethe, eben vor einem Geheimniß. Aber ſagen Sie mir doch, wenn Sie es
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vortrefflich. Das Neſt des Zaunkönigs dagegen iſt
äußerlich von Moos, Halmen und Blättern dicht und
feſt gebaut und innen mit allerlei Wolle und Federn
ſorgfältig ausgefüttert, ſo daß kein Lüftchen hin¬
durchdringen kann. Auch iſt es oben gedeckt und
gewölbt und nur eine kleine Oeffnung zum Hinein-
und Hinausſchlüpfen des ſehr kleinen Vogels gelaſſen.
Man ſollte denken, es müßte in heißen Junitagen in
ſolcher geſchloſſenen Höhle eine Hitze zum Erſticken
ſeyn. Allein der junge Kuckuck gedeiht darin auf's
Beſte. Und wiederum wie anders iſt das Neſt der
gelben Bachſtelze! — Der Vogel lebt am Waſſer, an
Bächen und in allerlei Naſſem. Er baut ſein Neſt
auf feuchten Triften, in einem Büſchel von Binſen.
Er ſcharrt ein Loch in die feuchte Erde und legt es
dürftig mit einigen Grashälmchen aus, ſo daß der
junge Kuckuck durchaus im Feuchten und Kühlen ge¬
brütet wird und heranwachſen muß. Und dennoch ge¬
deiht er wiederum vortrefflich. Was iſt das aber für
ein Vogel, für den im zarteſten Kindesalter Feuchtes
und Trockenes, Hitze und Kälte, Abweichungen die für
jeden anderen Vogel tödtlich wären, durchaus gleich¬
gültige Dinge ſind. Und wie weiß der alte Kuckuck,
daß ſie es ſind, da er doch ſelber im erwachſenen Alter
für Näſſe und Kälte ſo ſehr empfindlich iſt. —
„Wir ſtehen hier, erwiederte Goethe, eben vor einem
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/234>, abgerufen am 21.11.2024.
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