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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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Es ist so, antwortete ich. Sobald der junge Kuckuck
sein niederes Nest verlassen und seinen Sitz etwa in
dem Gipfel einer hohen Eiche genommen hat, läßt er
einen lauten Ton hören, welcher sagt, daß er da sey.
Nun kommen alle kleinen Vögel der Nachbarschaft, die
ihn gehört haben, herbei, um ihn zu begrüßen. Es
kommt die Grasemücke, es kommt der Mönch, die gelbe
Bachstelze fliegt hinauf, ja der Zaunkönig, dessen Na¬
turell es ist beständig in niederen Hecken und dichten
Gebüschen zu schlüpfen, überwindet seine Natur und
erhebt sich, dem geliebten Ankömmling entgegen, zum
Gipfel der hohen Eiche. Das Paar aber, das ihn
erzogen hat, ist mit dem Füttern treuer, während die
Uebrigen nur gelegentlich mit einem guten Bissen her¬
zufliegen.

"Es scheint also, sagte Goethe, zwischen dem jungen
Kuckuck und den kleinen Insecten-Vögeln eine große
Liebe zu bestehen."

Die Liebe der kleinen Insecten-Vögel zum jungen
Kuckuck, erwiederte ich, ist so groß, daß, wenn man
einem Neste nahe kommt, in welchem ein junger Kuckuck
gehegt wird, die kleinen Pflegeeltern vor Schreck und
Furcht und Sorge nicht wissen, wie sie sich gebärden
sollen. Besonders der Mönch drückt eine große Ver¬
zweiflung aus, so daß er fast wie in Krämpfen am
Boden flattert.

"Merkwürdig genug, erwiederte Goethe; aber es läßt

Es iſt ſo, antwortete ich. Sobald der junge Kuckuck
ſein niederes Neſt verlaſſen und ſeinen Sitz etwa in
dem Gipfel einer hohen Eiche genommen hat, läßt er
einen lauten Ton hören, welcher ſagt, daß er da ſey.
Nun kommen alle kleinen Vögel der Nachbarſchaft, die
ihn gehört haben, herbei, um ihn zu begrüßen. Es
kommt die Graſemücke, es kommt der Mönch, die gelbe
Bachſtelze fliegt hinauf, ja der Zaunkönig, deſſen Na¬
turell es iſt beſtändig in niederen Hecken und dichten
Gebüſchen zu ſchlüpfen, überwindet ſeine Natur und
erhebt ſich, dem geliebten Ankömmling entgegen, zum
Gipfel der hohen Eiche. Das Paar aber, das ihn
erzogen hat, iſt mit dem Füttern treuer, während die
Uebrigen nur gelegentlich mit einem guten Biſſen her¬
zufliegen.

„Es ſcheint alſo, ſagte Goethe, zwiſchen dem jungen
Kuckuck und den kleinen Inſecten-Vögeln eine große
Liebe zu beſtehen.“

Die Liebe der kleinen Inſecten-Vögel zum jungen
Kuckuck, erwiederte ich, iſt ſo groß, daß, wenn man
einem Neſte nahe kommt, in welchem ein junger Kuckuck
gehegt wird, die kleinen Pflegeeltern vor Schreck und
Furcht und Sorge nicht wiſſen, wie ſie ſich gebärden
ſollen. Beſonders der Mönch drückt eine große Ver¬
zweiflung aus, ſo daß er faſt wie in Krämpfen am
Boden flattert.

„Merkwürdig genug, erwiederte Goethe; aber es läßt

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[216/0238] Es iſt ſo, antwortete ich. Sobald der junge Kuckuck ſein niederes Neſt verlaſſen und ſeinen Sitz etwa in dem Gipfel einer hohen Eiche genommen hat, läßt er einen lauten Ton hören, welcher ſagt, daß er da ſey. Nun kommen alle kleinen Vögel der Nachbarſchaft, die ihn gehört haben, herbei, um ihn zu begrüßen. Es kommt die Graſemücke, es kommt der Mönch, die gelbe Bachſtelze fliegt hinauf, ja der Zaunkönig, deſſen Na¬ turell es iſt beſtändig in niederen Hecken und dichten Gebüſchen zu ſchlüpfen, überwindet ſeine Natur und erhebt ſich, dem geliebten Ankömmling entgegen, zum Gipfel der hohen Eiche. Das Paar aber, das ihn erzogen hat, iſt mit dem Füttern treuer, während die Uebrigen nur gelegentlich mit einem guten Biſſen her¬ zufliegen. „Es ſcheint alſo, ſagte Goethe, zwiſchen dem jungen Kuckuck und den kleinen Inſecten-Vögeln eine große Liebe zu beſtehen.“ Die Liebe der kleinen Inſecten-Vögel zum jungen Kuckuck, erwiederte ich, iſt ſo groß, daß, wenn man einem Neſte nahe kommt, in welchem ein junger Kuckuck gehegt wird, die kleinen Pflegeeltern vor Schreck und Furcht und Sorge nicht wiſſen, wie ſie ſich gebärden ſollen. Beſonders der Mönch drückt eine große Ver¬ zweiflung aus, ſo daß er faſt wie in Krämpfen am Boden flattert. „Merkwürdig genug, erwiederte Goethe; aber es läßt

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/238>, abgerufen am 21.11.2024.