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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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sich denken. Allein etwas sehr problematisch erscheint
mir, daß z. B. ein Grasemückenpaar, das im Begriff
ist, die eigenen Eyer zu brüten, dem alten Kuckuck er¬
laubt ihrem Neste nahe zu kommen und sein Ey hinein
zu legen."

Das ist freilich sehr räthselhaft, erwiederte ich; doch
nicht so ganz. Denn eben dadurch, daß alle kleinen
Insecten-Vögel den ausgeflogenen Kuckuck füttern, und
daß ihn also auch die füttern, die ihn nicht gebrütet
haben, dadurch entsteht und erhält sich zwischen Beiden
eine Art Verwandtschaft, so daß sie sich fortwährend
kennen und als Glieder einer einzigen großen Familie
betrachten. Ja es kann sogar kommen, daß derselbige
Kuckuck, den ein Paar Grasemücken im vorigen Jahre
ausgebrütet und erzogen haben, ihnen in diesem Jahre
sein Ey bringt.

"Das läßt sich allerdings hören, erwiederte Goethe,
so wenig man es auch begreift. Ein Wunder aber
bleibt es mir immer, daß der junge Kuckuck auch von
solchen Vögeln gefüttert wird, die ihn nicht gebrütet
und erzogen."

Es ist freilich ein Wunder, erwiederte ich; doch
giebt es wohl etwas Analoges. Ja ich ahne in dieser
Richtung sogar ein großes Gesetz, das tief durch die
ganze Natur geht.

Ich hatte einen jungen Hänfling gefangen, der
schon zu groß war, um sich von Menschen füttern zu

ſich denken. Allein etwas ſehr problematiſch erſcheint
mir, daß z. B. ein Graſemückenpaar, das im Begriff
iſt, die eigenen Eyer zu brüten, dem alten Kuckuck er¬
laubt ihrem Neſte nahe zu kommen und ſein Ey hinein
zu legen.“

Das iſt freilich ſehr räthſelhaft, erwiederte ich; doch
nicht ſo ganz. Denn eben dadurch, daß alle kleinen
Inſecten-Vögel den ausgeflogenen Kuckuck füttern, und
daß ihn alſo auch die füttern, die ihn nicht gebrütet
haben, dadurch entſteht und erhält ſich zwiſchen Beiden
eine Art Verwandtſchaft, ſo daß ſie ſich fortwährend
kennen und als Glieder einer einzigen großen Familie
betrachten. Ja es kann ſogar kommen, daß derſelbige
Kuckuck, den ein Paar Graſemücken im vorigen Jahre
ausgebrütet und erzogen haben, ihnen in dieſem Jahre
ſein Ey bringt.

„Das läßt ſich allerdings hören, erwiederte Goethe,
ſo wenig man es auch begreift. Ein Wunder aber
bleibt es mir immer, daß der junge Kuckuck auch von
ſolchen Vögeln gefüttert wird, die ihn nicht gebrütet
und erzogen.“

Es iſt freilich ein Wunder, erwiederte ich; doch
giebt es wohl etwas Analoges. Ja ich ahne in dieſer
Richtung ſogar ein großes Geſetz, das tief durch die
ganze Natur geht.

Ich hatte einen jungen Hänfling gefangen, der
ſchon zu groß war, um ſich von Menſchen füttern zu

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[217/0239] ſich denken. Allein etwas ſehr problematiſch erſcheint mir, daß z. B. ein Graſemückenpaar, das im Begriff iſt, die eigenen Eyer zu brüten, dem alten Kuckuck er¬ laubt ihrem Neſte nahe zu kommen und ſein Ey hinein zu legen.“ Das iſt freilich ſehr räthſelhaft, erwiederte ich; doch nicht ſo ganz. Denn eben dadurch, daß alle kleinen Inſecten-Vögel den ausgeflogenen Kuckuck füttern, und daß ihn alſo auch die füttern, die ihn nicht gebrütet haben, dadurch entſteht und erhält ſich zwiſchen Beiden eine Art Verwandtſchaft, ſo daß ſie ſich fortwährend kennen und als Glieder einer einzigen großen Familie betrachten. Ja es kann ſogar kommen, daß derſelbige Kuckuck, den ein Paar Graſemücken im vorigen Jahre ausgebrütet und erzogen haben, ihnen in dieſem Jahre ſein Ey bringt. „Das läßt ſich allerdings hören, erwiederte Goethe, ſo wenig man es auch begreift. Ein Wunder aber bleibt es mir immer, daß der junge Kuckuck auch von ſolchen Vögeln gefüttert wird, die ihn nicht gebrütet und erzogen.“ Es iſt freilich ein Wunder, erwiederte ich; doch giebt es wohl etwas Analoges. Ja ich ahne in dieſer Richtung ſogar ein großes Geſetz, das tief durch die ganze Natur geht. Ich hatte einen jungen Hänfling gefangen, der ſchon zu groß war, um ſich von Menſchen füttern zu

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/239>, abgerufen am 21.11.2024.