lassen, aber noch zu jung, um allein zu fressen. Ich gab mir mit ihm einen halben Tag viele Mühe; da er aber durchaus nichts annehmen wollte, so setzte ich ihn zu einem alten Hänfling hinein, einem guten Sänger, den ich schon seit Jahr und Tag im Käfig gehabt und der außen vor meinem Fenster hing. Ich dachte: wenn der Junge sieht wie der Alte frißt, so wird er vielleicht auch ans Futter gehen und es ihm nachmachen. Er that aber nicht so, sondern er öffnete seinen Schnabel gegen den Alten und bewegte mit bittenden Tönen die Flügel gegen ihn, worauf denn der alte Hänfling sich seiner sogleich erbarmte und ihn als Kind annahm und ihn fütterte, als wäre es sein eigenes.
Ferner brachte man mir eine graue Grasemücke und drei Junge, die ich zusammen in einen großen Käfig that und die die Alte fütterte. Am andern Tage brachte man mir zwei bereits ausgeflogene junge Nach¬ tigallen, die ich auch zu der Grasemücke that und die von ihr gleichfalls adoptirt und gefüttert wurden. Darauf nach einigen Tagen setzte ich noch ein Nest mit beinahe flüggen jungen Müllerchen hinein, und ferner noch ein Nest mit fünf jungen Plattmönchen. Diese alle nahm die Grasemücke an und fütterte sie und sorgte für sie als treue Mutter. Sie hatte immer den Schnabel voll Ameiseneyer und war bald in der einen Ecke des geräumigen Käfigs und bald in der
laſſen, aber noch zu jung, um allein zu freſſen. Ich gab mir mit ihm einen halben Tag viele Mühe; da er aber durchaus nichts annehmen wollte, ſo ſetzte ich ihn zu einem alten Hänfling hinein, einem guten Sänger, den ich ſchon ſeit Jahr und Tag im Käfig gehabt und der außen vor meinem Fenſter hing. Ich dachte: wenn der Junge ſieht wie der Alte frißt, ſo wird er vielleicht auch ans Futter gehen und es ihm nachmachen. Er that aber nicht ſo, ſondern er öffnete ſeinen Schnabel gegen den Alten und bewegte mit bittenden Tönen die Flügel gegen ihn, worauf denn der alte Hänfling ſich ſeiner ſogleich erbarmte und ihn als Kind annahm und ihn fütterte, als wäre es ſein eigenes.
Ferner brachte man mir eine graue Graſemücke und drei Junge, die ich zuſammen in einen großen Käfig that und die die Alte fütterte. Am andern Tage brachte man mir zwei bereits ausgeflogene junge Nach¬ tigallen, die ich auch zu der Graſemücke that und die von ihr gleichfalls adoptirt und gefüttert wurden. Darauf nach einigen Tagen ſetzte ich noch ein Neſt mit beinahe flüggen jungen Müllerchen hinein, und ferner noch ein Neſt mit fünf jungen Plattmönchen. Dieſe alle nahm die Graſemücke an und fütterte ſie und ſorgte für ſie als treue Mutter. Sie hatte immer den Schnabel voll Ameiſeneyer und war bald in der einen Ecke des geräumigen Käfigs und bald in der
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laſſen, aber noch zu jung, um allein zu freſſen. Ich
gab mir mit ihm einen halben Tag viele Mühe; da er
aber durchaus nichts annehmen wollte, ſo ſetzte ich
ihn zu einem alten Hänfling hinein, einem guten
Sänger, den ich ſchon ſeit Jahr und Tag im Käfig
gehabt und der außen vor meinem Fenſter hing. Ich
dachte: wenn der Junge ſieht wie der Alte frißt, ſo
wird er vielleicht auch ans Futter gehen und es ihm
nachmachen. Er that aber nicht ſo, ſondern er öffnete
ſeinen Schnabel gegen den Alten und bewegte mit
bittenden Tönen die Flügel gegen ihn, worauf denn
der alte Hänfling ſich ſeiner ſogleich erbarmte und ihn
als Kind annahm und ihn fütterte, als wäre es ſein
eigenes.
Ferner brachte man mir eine graue Graſemücke und
drei Junge, die ich zuſammen in einen großen Käfig
that und die die Alte fütterte. Am andern Tage
brachte man mir zwei bereits ausgeflogene junge Nach¬
tigallen, die ich auch zu der Graſemücke that und die
von ihr gleichfalls adoptirt und gefüttert wurden.
Darauf nach einigen Tagen ſetzte ich noch ein Neſt
mit beinahe flüggen jungen Müllerchen hinein, und
ferner noch ein Neſt mit fünf jungen Plattmönchen.
Dieſe alle nahm die Graſemücke an und fütterte ſie
und ſorgte für ſie als treue Mutter. Sie hatte immer
den Schnabel voll Ameiſeneyer und war bald in der
einen Ecke des geräumigen Käfigs und bald in der
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/240>, abgerufen am 21.11.2024.
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