Hier, dachte ich, hast du Ruhe, um einmal nach deinen Zaunkönigen zu sehen. Als ich aber das Tuch öffnete, entschlüpften sie mir beide und waren sogleich im Ge¬ büsch und Grase verschwunden, so daß mein Suchen nach ihnen vergebens war. Am dritten Tage kam ich zufällig wieder an dieselbige Stelle, und da ich die Locktöne eines Rothkehlchens hörte, so vermuthete ich ein Nest in der Nähe, welches ich nach einigem Umher¬ spähen auch wirklich fand. Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich in diesem Nest, neben beinahe flüg¬ gen jungen Rothkehlchen, auch meine beiden jungen Zaunkönige fand, die sich hier ganz gemüthlich unter¬ gethan hatten und sich von den alten Rothkehlchen füttern ließen. Ich war im hohen Grade glücklich über diesen höchst merkwürdigen Fund. Da ihr so klug seyd, dachte ich bei mir selber, und euch so hübsch habt zu helfen gewußt, und da auch die guten Rothkehlchen sich eurer so hülfreich angenommen, so bin ich weit entfernt so gastfreundliche Verhältnisse zu stören, im Gegentheil wünsche ich euch das allerbeste Gedeihen.
"Das ist eine der besten ornithologischen Geschich¬ ten, die mir je zu Ohren gekommen, sagte Goethe. Stoßen Sie an, Sie sollen leben, und Ihre glücklichen Beobachtungen mit! -- Wer das hört und nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moses und die Prophe¬ ten. Das ist es nun, was ich die Allgegenwart Gottes nenne, der einen Theil seiner unendlichen Liebe überall
Hier, dachte ich, haſt du Ruhe, um einmal nach deinen Zaunkönigen zu ſehen. Als ich aber das Tuch öffnete, entſchlüpften ſie mir beide und waren ſogleich im Ge¬ büſch und Graſe verſchwunden, ſo daß mein Suchen nach ihnen vergebens war. Am dritten Tage kam ich zufällig wieder an dieſelbige Stelle, und da ich die Locktöne eines Rothkehlchens hörte, ſo vermuthete ich ein Neſt in der Nähe, welches ich nach einigem Umher¬ ſpähen auch wirklich fand. Wie groß war aber mein Erſtaunen, als ich in dieſem Neſt, neben beinahe flüg¬ gen jungen Rothkehlchen, auch meine beiden jungen Zaunkönige fand, die ſich hier ganz gemüthlich unter¬ gethan hatten und ſich von den alten Rothkehlchen füttern ließen. Ich war im hohen Grade glücklich über dieſen höchſt merkwürdigen Fund. Da ihr ſo klug ſeyd, dachte ich bei mir ſelber, und euch ſo hübſch habt zu helfen gewußt, und da auch die guten Rothkehlchen ſich eurer ſo hülfreich angenommen, ſo bin ich weit entfernt ſo gaſtfreundliche Verhältniſſe zu ſtören, im Gegentheil wünſche ich euch das allerbeſte Gedeihen.
„Das iſt eine der beſten ornithologiſchen Geſchich¬ ten, die mir je zu Ohren gekommen, ſagte Goethe. Stoßen Sie an, Sie ſollen leben, und Ihre glücklichen Beobachtungen mit! — Wer das hört und nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moſes und die Prophe¬ ten. Das iſt es nun, was ich die Allgegenwart Gottes nenne, der einen Theil ſeiner unendlichen Liebe überall
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Hier, dachte ich, haſt du Ruhe, um einmal nach deinen
Zaunkönigen zu ſehen. Als ich aber das Tuch öffnete,
entſchlüpften ſie mir beide und waren ſogleich im Ge¬
büſch und Graſe verſchwunden, ſo daß mein Suchen
nach ihnen vergebens war. Am dritten Tage kam ich
zufällig wieder an dieſelbige Stelle, und da ich die
Locktöne eines Rothkehlchens hörte, ſo vermuthete ich
ein Neſt in der Nähe, welches ich nach einigem Umher¬
ſpähen auch wirklich fand. Wie groß war aber mein
Erſtaunen, als ich in dieſem Neſt, neben beinahe flüg¬
gen jungen Rothkehlchen, auch meine beiden jungen
Zaunkönige fand, die ſich hier ganz gemüthlich unter¬
gethan hatten und ſich von den alten Rothkehlchen
füttern ließen. Ich war im hohen Grade glücklich über
dieſen höchſt merkwürdigen Fund. Da ihr ſo klug
ſeyd, dachte ich bei mir ſelber, und euch ſo hübſch habt
zu helfen gewußt, und da auch die guten Rothkehlchen
ſich eurer ſo hülfreich angenommen, ſo bin ich weit
entfernt ſo gaſtfreundliche Verhältniſſe zu ſtören, im
Gegentheil wünſche ich euch das allerbeſte Gedeihen.
„Das iſt eine der beſten ornithologiſchen Geſchich¬
ten, die mir je zu Ohren gekommen, ſagte Goethe.
Stoßen Sie an, Sie ſollen leben, und Ihre glücklichen
Beobachtungen mit! — Wer das hört und nicht an
Gott glaubt, dem helfen nicht Moſes und die Prophe¬
ten. Das iſt es nun, was ich die Allgegenwart Gottes
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/242>, abgerufen am 21.11.2024.
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