Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

schwer werden würde, etwas so Eigenthümliches und
Hübsches zu erfinden."

Ich begreife kaum, wie ich dazu gekommen bin, er¬
wiederte ich, denn ich fühlte mich alle die Tage her so
niedergeschlagenen Geistes, daß die Anschauung eines
so frischen Lebens mir sehr ferne stand.

"Es liegen in der menschlichen Natur wunderbare
Kräfte, erwiederte Goethe, und eben wenn wir es am
wenigsten hoffen hat sie etwas Gutes für uns in Be¬
reitschaft. Ich habe in meinem Leben Zeiten gehabt,
wo ich mit Thränen einschlief; aber in meinen Träumen
kamen nun die lieblichsten Gestalten, mich zu trösten
und zu beglücken, und ich stand am andern Morgen
wieder frisch und froh auf den Füßen."

"Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder
weniger allen herzlich schlecht; unsere Zustände sind viel
zu künstlich und complicirt, unsere Nahrung und Le¬
bensweise ist ohne die rechte Natur, und unser geselliger
Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohlwollen. -- Je¬
dermann ist fein und höflich, aber Niemand hat den
Muth, gemüthlich und wahr zu seyn, so daß ein red¬
licher Mensch mit natürlicher Neigung und Gesinnung
einen recht bösen Stand hat. Man sollte oft wünschen,
auf einer der Südsee-Inseln als sogenannter Wilder
geboren zu seyn, um nur einmal das menschliche Da¬
seyn, ohne falschen Beigeschmack, durchaus rein zu ge¬
nießen."

ſchwer werden würde, etwas ſo Eigenthümliches und
Hübſches zu erfinden.“

Ich begreife kaum, wie ich dazu gekommen bin, er¬
wiederte ich, denn ich fühlte mich alle die Tage her ſo
niedergeſchlagenen Geiſtes, daß die Anſchauung eines
ſo friſchen Lebens mir ſehr ferne ſtand.

„Es liegen in der menſchlichen Natur wunderbare
Kräfte, erwiederte Goethe, und eben wenn wir es am
wenigſten hoffen hat ſie etwas Gutes für uns in Be¬
reitſchaft. Ich habe in meinem Leben Zeiten gehabt,
wo ich mit Thränen einſchlief; aber in meinen Träumen
kamen nun die lieblichſten Geſtalten, mich zu tröſten
und zu beglücken, und ich ſtand am andern Morgen
wieder friſch und froh auf den Füßen.“

„Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder
weniger allen herzlich ſchlecht; unſere Zuſtände ſind viel
zu künſtlich und complicirt, unſere Nahrung und Le¬
bensweiſe iſt ohne die rechte Natur, und unſer geſelliger
Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohlwollen. — Je¬
dermann iſt fein und höflich, aber Niemand hat den
Muth, gemüthlich und wahr zu ſeyn, ſo daß ein red¬
licher Menſch mit natürlicher Neigung und Geſinnung
einen recht böſen Stand hat. Man ſollte oft wünſchen,
auf einer der Südſee-Inſeln als ſogenannter Wilder
geboren zu ſeyn, um nur einmal das menſchliche Da¬
ſeyn, ohne falſchen Beigeſchmack, durchaus rein zu ge¬
nießen.“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0268" n="246"/>
&#x017F;chwer werden würde, etwas &#x017F;o Eigenthümliches und<lb/>
Hüb&#x017F;ches zu erfinden.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Ich begreife kaum, wie ich dazu gekommen bin, er¬<lb/>
wiederte ich, denn ich fühlte mich alle die Tage her &#x017F;o<lb/>
niederge&#x017F;chlagenen Gei&#x017F;tes, daß die An&#x017F;chauung eines<lb/>
&#x017F;o fri&#x017F;chen Lebens mir &#x017F;ehr ferne &#x017F;tand.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Es liegen in der men&#x017F;chlichen Natur wunderbare<lb/>
Kräfte, erwiederte Goethe, und eben wenn wir es am<lb/>
wenig&#x017F;ten hoffen hat &#x017F;ie etwas Gutes für uns in Be¬<lb/>
reit&#x017F;chaft. Ich habe in meinem Leben Zeiten gehabt,<lb/>
wo ich mit Thränen ein&#x017F;chlief; aber in meinen Träumen<lb/>
kamen nun die lieblich&#x017F;ten Ge&#x017F;talten, mich zu trö&#x017F;ten<lb/>
und zu beglücken, und ich &#x017F;tand am andern Morgen<lb/>
wieder fri&#x017F;ch und froh auf den Füßen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder<lb/>
weniger allen herzlich &#x017F;chlecht; un&#x017F;ere Zu&#x017F;tände &#x017F;ind viel<lb/>
zu kün&#x017F;tlich und complicirt, un&#x017F;ere Nahrung und Le¬<lb/>
benswei&#x017F;e i&#x017F;t ohne die rechte Natur, und un&#x017F;er ge&#x017F;elliger<lb/>
Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohlwollen. &#x2014; Je¬<lb/>
dermann i&#x017F;t fein und höflich, aber Niemand hat den<lb/>
Muth, gemüthlich und wahr zu &#x017F;eyn, &#x017F;o daß ein red¬<lb/>
licher Men&#x017F;ch mit natürlicher Neigung und Ge&#x017F;innung<lb/>
einen recht bö&#x017F;en Stand hat. Man &#x017F;ollte oft wün&#x017F;chen,<lb/>
auf einer der Süd&#x017F;ee-In&#x017F;eln als &#x017F;ogenannter Wilder<lb/>
geboren zu &#x017F;eyn, um nur einmal das men&#x017F;chliche Da¬<lb/>
&#x017F;eyn, ohne fal&#x017F;chen Beige&#x017F;chmack, durchaus rein zu ge¬<lb/>
nießen.&#x201C;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[246/0268] ſchwer werden würde, etwas ſo Eigenthümliches und Hübſches zu erfinden.“ Ich begreife kaum, wie ich dazu gekommen bin, er¬ wiederte ich, denn ich fühlte mich alle die Tage her ſo niedergeſchlagenen Geiſtes, daß die Anſchauung eines ſo friſchen Lebens mir ſehr ferne ſtand. „Es liegen in der menſchlichen Natur wunderbare Kräfte, erwiederte Goethe, und eben wenn wir es am wenigſten hoffen hat ſie etwas Gutes für uns in Be¬ reitſchaft. Ich habe in meinem Leben Zeiten gehabt, wo ich mit Thränen einſchlief; aber in meinen Träumen kamen nun die lieblichſten Geſtalten, mich zu tröſten und zu beglücken, und ich ſtand am andern Morgen wieder friſch und froh auf den Füßen.“ „Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder weniger allen herzlich ſchlecht; unſere Zuſtände ſind viel zu künſtlich und complicirt, unſere Nahrung und Le¬ bensweiſe iſt ohne die rechte Natur, und unſer geſelliger Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohlwollen. — Je¬ dermann iſt fein und höflich, aber Niemand hat den Muth, gemüthlich und wahr zu ſeyn, ſo daß ein red¬ licher Menſch mit natürlicher Neigung und Geſinnung einen recht böſen Stand hat. Man ſollte oft wünſchen, auf einer der Südſee-Inſeln als ſogenannter Wilder geboren zu ſeyn, um nur einmal das menſchliche Da¬ ſeyn, ohne falſchen Beigeſchmack, durchaus rein zu ge¬ nießen.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/268
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/268>, abgerufen am 22.11.2024.