"Denkt man sich bei deprimirter Stimmung recht tief in das Elend unserer Zeit hinein, so kommt es Einem oft vor, als wäre die Welt nach und nach zum jüngsten Tage reif. Und das Uebel häuft sich von Ge¬ neration zu Generation! Denn nicht genug, daß wir an den Sünden unserer Väter zu leiden haben, sondern wir überliefern auch diese geerbten Gebrechen, mit un¬ seren eigenen vermehrt, unseren Nachkommen."
Mir gehen oft ähnliche Gedanken durch den Kopf, versetzte ich; allein wenn ich sodann irgend ein Regiment deutscher Dragoner an mir vorüber reiten sehe und die Schönheit und Kraft der jungen Leute erwäge, so schöpfe ich wieder einigen Trost, und ich sage mir, daß es denn doch um die Dauer der Menschheit noch nicht so gar schlecht stehe.
"Unser Landvolk, erwiederte Goethe, hat sich freilich fortwährend in guter Kraft erhalten, und wird hoffent¬ lich noch lange im Stande seyn, uns nicht allein tüch¬ tige Reiter zu liefern, sondern uns auch vor gänzlichem Verfall und Verderben zu sichern. Es ist als ein De¬ pot zu betrachten, aus dem sich die Kräfte der sinken¬ den Menschheit immer wieder ergänzen und anfrischen. Aber gehen Sie einmal in unsere großen Städte, und es wird Ihnen anders zu Muthe werden. Halten Sie einmal einen Umgang an der Seite eines zweiten hin¬ kenden Teufels, oder eines Arztes von ausgedehnter Praxis, und er wird Ihnen Geschichten zuflüstern, daß
„Denkt man ſich bei deprimirter Stimmung recht tief in das Elend unſerer Zeit hinein, ſo kommt es Einem oft vor, als wäre die Welt nach und nach zum jüngſten Tage reif. Und das Uebel häuft ſich von Ge¬ neration zu Generation! Denn nicht genug, daß wir an den Sünden unſerer Väter zu leiden haben, ſondern wir überliefern auch dieſe geerbten Gebrechen, mit un¬ ſeren eigenen vermehrt, unſeren Nachkommen.“
Mir gehen oft ähnliche Gedanken durch den Kopf, verſetzte ich; allein wenn ich ſodann irgend ein Regiment deutſcher Dragoner an mir vorüber reiten ſehe und die Schönheit und Kraft der jungen Leute erwäge, ſo ſchöpfe ich wieder einigen Troſt, und ich ſage mir, daß es denn doch um die Dauer der Menſchheit noch nicht ſo gar ſchlecht ſtehe.
„Unſer Landvolk, erwiederte Goethe, hat ſich freilich fortwährend in guter Kraft erhalten, und wird hoffent¬ lich noch lange im Stande ſeyn, uns nicht allein tüch¬ tige Reiter zu liefern, ſondern uns auch vor gänzlichem Verfall und Verderben zu ſichern. Es iſt als ein De¬ pot zu betrachten, aus dem ſich die Kräfte der ſinken¬ den Menſchheit immer wieder ergänzen und anfriſchen. Aber gehen Sie einmal in unſere großen Städte, und es wird Ihnen anders zu Muthe werden. Halten Sie einmal einen Umgang an der Seite eines zweiten hin¬ kenden Teufels, oder eines Arztes von ausgedehnter Praxis, und er wird Ihnen Geſchichten zuflüſtern, daß
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„Denkt man ſich bei deprimirter Stimmung recht
tief in das Elend unſerer Zeit hinein, ſo kommt es
Einem oft vor, als wäre die Welt nach und nach zum
jüngſten Tage reif. Und das Uebel häuft ſich von Ge¬
neration zu Generation! Denn nicht genug, daß wir
an den Sünden unſerer Väter zu leiden haben, ſondern
wir überliefern auch dieſe geerbten Gebrechen, mit un¬
ſeren eigenen vermehrt, unſeren Nachkommen.“
Mir gehen oft ähnliche Gedanken durch den Kopf,
verſetzte ich; allein wenn ich ſodann irgend ein Regiment
deutſcher Dragoner an mir vorüber reiten ſehe und die
Schönheit und Kraft der jungen Leute erwäge, ſo ſchöpfe
ich wieder einigen Troſt, und ich ſage mir, daß es denn
doch um die Dauer der Menſchheit noch nicht ſo gar
ſchlecht ſtehe.
„Unſer Landvolk, erwiederte Goethe, hat ſich freilich
fortwährend in guter Kraft erhalten, und wird hoffent¬
lich noch lange im Stande ſeyn, uns nicht allein tüch¬
tige Reiter zu liefern, ſondern uns auch vor gänzlichem
Verfall und Verderben zu ſichern. Es iſt als ein De¬
pot zu betrachten, aus dem ſich die Kräfte der ſinken¬
den Menſchheit immer wieder ergänzen und anfriſchen.
Aber gehen Sie einmal in unſere großen Städte, und
es wird Ihnen anders zu Muthe werden. Halten Sie
einmal einen Umgang an der Seite eines zweiten hin¬
kenden Teufels, oder eines Arztes von ausgedehnter
Praxis, und er wird Ihnen Geſchichten zuflüſtern, daß
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/269>, abgerufen am 22.11.2024.
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