Sie über das Elend erschrecken und über die Gebrechen erstaunen, von denen die menschliche Natur heimgesucht ist und an denen die Gesellschaft leidet."
"Doch wir wollen uns der hypochondrischen Gedan¬ ken entschlagen. Wie geht es Ihnen? Was machen Sie? Wie haben Sie sonst heute gelebt? Erzählen Sie mir und geben Sie mir gute Gedanken."
Ich habe in Sterne gelesen, erwiederte ich, wo Yo¬ rik in den Straßen von Paris umherschlendert und die Bemerkung macht, daß der zehnte Mensch ein Zwerg sey. Ich dachte so eben daran, als Sie der Gebrechen der großen Städte erwähnten. Auch erinnere ich mich, zur Zeit Napoleon's, unter der französischen Infanterie ein Bataillon gesehen zu haben, das aus lauter Parisern bestand, und welches alles so schmächtige kleine Leute waren, daß man nicht wohl begriff, was man im Kriege mit ihnen wolle ausrichten.
"Die Bergschotten des Herzogs von Wellington, versetzte Goethe, mögen freilich andere Helden gewesen seyn!"
Ich habe sie ein Jahr vor der Waterloo-Schlacht in Brüssel gesehen, erwiederte ich. Das waren in der That schöne Leute! Alle stark, frisch und behende, wie aus der ersten Hand Gottes. Sie trugen alle den Kopf so frei und froh, und schritten mit ihren kräftigen nackten Schenkeln so leicht einher, als gebe es für sie keine Erbsünde und keine Gebrechen der Väter.
Sie über das Elend erſchrecken und über die Gebrechen erſtaunen, von denen die menſchliche Natur heimgeſucht iſt und an denen die Geſellſchaft leidet.“
„Doch wir wollen uns der hypochondriſchen Gedan¬ ken entſchlagen. Wie geht es Ihnen? Was machen Sie? Wie haben Sie ſonſt heute gelebt? Erzählen Sie mir und geben Sie mir gute Gedanken.“
Ich habe in Sterne geleſen, erwiederte ich, wo Yo¬ rik in den Straßen von Paris umherſchlendert und die Bemerkung macht, daß der zehnte Menſch ein Zwerg ſey. Ich dachte ſo eben daran, als Sie der Gebrechen der großen Städte erwähnten. Auch erinnere ich mich, zur Zeit Napoleon's, unter der franzöſiſchen Infanterie ein Bataillon geſehen zu haben, das aus lauter Pariſern beſtand, und welches alles ſo ſchmächtige kleine Leute waren, daß man nicht wohl begriff, was man im Kriege mit ihnen wolle ausrichten.
„Die Bergſchotten des Herzogs von Wellington, verſetzte Goethe, mögen freilich andere Helden geweſen ſeyn!“
Ich habe ſie ein Jahr vor der Waterloo-Schlacht in Brüſſel geſehen, erwiederte ich. Das waren in der That ſchöne Leute! Alle ſtark, friſch und behende, wie aus der erſten Hand Gottes. Sie trugen alle den Kopf ſo frei und froh, und ſchritten mit ihren kräftigen nackten Schenkeln ſo leicht einher, als gebe es für ſie keine Erbſünde und keine Gebrechen der Väter.
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Sie über das Elend erſchrecken und über die Gebrechen
erſtaunen, von denen die menſchliche Natur heimgeſucht
iſt und an denen die Geſellſchaft leidet.“
„Doch wir wollen uns der hypochondriſchen Gedan¬
ken entſchlagen. Wie geht es Ihnen? Was machen
Sie? Wie haben Sie ſonſt heute gelebt? Erzählen
Sie mir und geben Sie mir gute Gedanken.“
Ich habe in Sterne geleſen, erwiederte ich, wo Yo¬
rik in den Straßen von Paris umherſchlendert und die
Bemerkung macht, daß der zehnte Menſch ein Zwerg
ſey. Ich dachte ſo eben daran, als Sie der Gebrechen
der großen Städte erwähnten. Auch erinnere ich mich,
zur Zeit Napoleon's, unter der franzöſiſchen Infanterie
ein Bataillon geſehen zu haben, das aus lauter Pariſern
beſtand, und welches alles ſo ſchmächtige kleine Leute
waren, daß man nicht wohl begriff, was man im Kriege
mit ihnen wolle ausrichten.
„Die Bergſchotten des Herzogs von Wellington,
verſetzte Goethe, mögen freilich andere Helden geweſen
ſeyn!“
Ich habe ſie ein Jahr vor der Waterloo-Schlacht
in Brüſſel geſehen, erwiederte ich. Das waren in der
That ſchöne Leute! Alle ſtark, friſch und behende, wie
aus der erſten Hand Gottes. Sie trugen alle den
Kopf ſo frei und froh, und ſchritten mit ihren kräftigen
nackten Schenkeln ſo leicht einher, als gebe es für ſie
keine Erbſünde und keine Gebrechen der Väter.
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/270>, abgerufen am 22.11.2024.
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