Briefe eine Abschrift nehmen lassen und will Ihnen doch Einiges daraus mittheilen."
Goethe stand auf und ging zu seinem Pult, wo er den Brief nahm und sich wieder zu mir an den Tisch setzte. Er las eine Weile im Stillen. Ich sah Thrä¬ nen in seinen Augen. "Lesen Sie es für sich, sagte er dann, indem er mir den Brief zureichte. Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab, während ich las.
"Wer konnte mehr durch das schnelle Hinscheiden des Verewigten erschüttert werden, schreibt Humboldt, als ich, den er seit dreißig Jahren mit so wohlwollender Auszeichnung, ich darf sagen, mit so aufrichtiger Vor¬ liebe behandelt hatte. Auch hier wollte er mich fast zu jeder Stunde um sich haben; und, als sey eine solche Lucidität, wie bei den erhabenen schneebedeckten Alpen, der Vorbote des scheidenden Lichtes, nie habe ich den großen menschlichen Fürsten lebendiger, geist¬ reicher, milder und an aller ferneren Entwickelung des Volkslebens theilnehmender gesehen, als in den letzten Tagen, die wir ihn hier besaßen."
"Ich sagte mehrmals zu meinen Freunden ahnungs¬ voll und beängstigt, daß diese Lebendigkeit, diese ge¬ heimnißvolle Klarheit des Geistes, bei so viel körperlicher Schwäche, mir ein schreckhaftes Phänomen sey. Er selbst oscillirte sichtbar zwischen Hoffnung der Gene¬ sung und Erwartung der großen Catastrophe."
"Als ich ihn vier und zwanzig Stunden vor dieser
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Briefe eine Abſchrift nehmen laſſen und will Ihnen doch Einiges daraus mittheilen.“
Goethe ſtand auf und ging zu ſeinem Pult, wo er den Brief nahm und ſich wieder zu mir an den Tiſch ſetzte. Er las eine Weile im Stillen. Ich ſah Thrä¬ nen in ſeinen Augen. „Leſen Sie es für ſich, ſagte er dann, indem er mir den Brief zureichte. Er ſtand auf und ging im Zimmer auf und ab, während ich las.
„Wer konnte mehr durch das ſchnelle Hinſcheiden des Verewigten erſchüttert werden, ſchreibt Humboldt, als ich, den er ſeit dreißig Jahren mit ſo wohlwollender Auszeichnung, ich darf ſagen, mit ſo aufrichtiger Vor¬ liebe behandelt hatte. Auch hier wollte er mich faſt zu jeder Stunde um ſich haben; und, als ſey eine ſolche Lucidität, wie bei den erhabenen ſchneebedeckten Alpen, der Vorbote des ſcheidenden Lichtes, nie habe ich den großen menſchlichen Fürſten lebendiger, geiſt¬ reicher, milder und an aller ferneren Entwickelung des Volkslebens theilnehmender geſehen, als in den letzten Tagen, die wir ihn hier beſaßen.“
„Ich ſagte mehrmals zu meinen Freunden ahnungs¬ voll und beängſtigt, daß dieſe Lebendigkeit, dieſe ge¬ heimnißvolle Klarheit des Geiſtes, bei ſo viel körperlicher Schwäche, mir ein ſchreckhaftes Phänomen ſey. Er ſelbſt oscillirte ſichtbar zwiſchen Hoffnung der Gene¬ ſung und Erwartung der großen Cataſtrophe.“
„Als ich ihn vier und zwanzig Stunden vor dieſer
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Briefe eine Abſchrift nehmen laſſen und will Ihnen doch
Einiges daraus mittheilen.“
Goethe ſtand auf und ging zu ſeinem Pult, wo er
den Brief nahm und ſich wieder zu mir an den Tiſch
ſetzte. Er las eine Weile im Stillen. Ich ſah Thrä¬
nen in ſeinen Augen. „Leſen Sie es für ſich, ſagte er
dann, indem er mir den Brief zureichte. Er ſtand auf
und ging im Zimmer auf und ab, während ich las.
„Wer konnte mehr durch das ſchnelle Hinſcheiden des
Verewigten erſchüttert werden, ſchreibt Humboldt, als
ich, den er ſeit dreißig Jahren mit ſo wohlwollender
Auszeichnung, ich darf ſagen, mit ſo aufrichtiger Vor¬
liebe behandelt hatte. Auch hier wollte er mich faſt
zu jeder Stunde um ſich haben; und, als ſey eine
ſolche Lucidität, wie bei den erhabenen ſchneebedeckten
Alpen, der Vorbote des ſcheidenden Lichtes, nie habe
ich den großen menſchlichen Fürſten lebendiger, geiſt¬
reicher, milder und an aller ferneren Entwickelung des
Volkslebens theilnehmender geſehen, als in den letzten
Tagen, die wir ihn hier beſaßen.“
„Ich ſagte mehrmals zu meinen Freunden ahnungs¬
voll und beängſtigt, daß dieſe Lebendigkeit, dieſe ge¬
heimnißvolle Klarheit des Geiſtes, bei ſo viel körperlicher
Schwäche, mir ein ſchreckhaftes Phänomen ſey. Er
ſelbſt oscillirte ſichtbar zwiſchen Hoffnung der Gene¬
ſung und Erwartung der großen Cataſtrophe.“
„Als ich ihn vier und zwanzig Stunden vor dieſer
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/281>, abgerufen am 22.11.2024.
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