Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

Baiern, den er heute erhalten hatte und der zu seiner
heiteren Stimmung wahrscheinlich nicht wenig beige¬
tragen. "Lesen Sie, sagte er, und gestehen Sie, daß
das Wohlwollen, das der König mir fortwährend be¬
wahrt, und das lebhafte Interesse, das er an den
Fortschritten der Literatur und höheren menschlichen
Entwickelung nimmt, durchaus geeignet ist, mir Freude
zu machen. Und daß ich diesen Brief gerade heute er¬
hielt, dafür danke ich dem Himmel, als für eine beson¬
dere Gunst."

Wir sprachen darauf über das Theater und drama¬
tische Poesie. "Gozzi, sagte Goethe, wollte behaupten,
daß es nur sechs und dreißig tragische Situationen
gebe. Schiller gab sich alle Mühe, noch mehrere zu
finden; allein er fand nicht einmal so viele als Gozzi."

Dieß führte auf einen Artikel des Globe, und
zwar auf eine kritische Beleuchtung des "Gustav Wasa"
von Arnault. Die Art und Weise, wie der Recensent
sich dabei benommen, machte Goethen viel Vergnügen
und fand seinen vollkommenen Beifall. Der Beurthei¬
lende hatte sich nämlich damit begnügt, alle Remi¬
niscenzen des Autors namhaft zu machen, ohne ihn
selber und seine poetischen Grundsätze weiter anzu¬
greifen. "Der Temps, fügte Goethe hinzu, hat sich
in seiner Kritik nicht so weise benommen. Er maßt
sich an, dem Dichter den Weg vorschreiben zu wollen,
den er hätte gehen müssen. Dieß ist ein großer Fehler;

Baiern, den er heute erhalten hatte und der zu ſeiner
heiteren Stimmung wahrſcheinlich nicht wenig beige¬
tragen. „Leſen Sie, ſagte er, und geſtehen Sie, daß
das Wohlwollen, das der König mir fortwährend be¬
wahrt, und das lebhafte Intereſſe, das er an den
Fortſchritten der Literatur und höheren menſchlichen
Entwickelung nimmt, durchaus geeignet iſt, mir Freude
zu machen. Und daß ich dieſen Brief gerade heute er¬
hielt, dafür danke ich dem Himmel, als für eine beſon¬
dere Gunſt.“

Wir ſprachen darauf über das Theater und drama¬
tiſche Poeſie. „Gozzi, ſagte Goethe, wollte behaupten,
daß es nur ſechs und dreißig tragiſche Situationen
gebe. Schiller gab ſich alle Mühe, noch mehrere zu
finden; allein er fand nicht einmal ſo viele als Gozzi.“

Dieß führte auf einen Artikel des Globe, und
zwar auf eine kritiſche Beleuchtung des „Guſtav Waſa“
von Arnault. Die Art und Weiſe, wie der Recenſent
ſich dabei benommen, machte Goethen viel Vergnügen
und fand ſeinen vollkommenen Beifall. Der Beurthei¬
lende hatte ſich nämlich damit begnügt, alle Remi¬
niscenzen des Autors namhaft zu machen, ohne ihn
ſelber und ſeine poetiſchen Grundſätze weiter anzu¬
greifen. „Der Temps, fügte Goethe hinzu, hat ſich
in ſeiner Kritik nicht ſo weiſe benommen. Er maßt
ſich an, dem Dichter den Weg vorſchreiben zu wollen,
den er hätte gehen müſſen. Dieß iſt ein großer Fehler;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0315" n="293"/>
Baiern</hi>, den er heute erhalten hatte und der zu &#x017F;einer<lb/>
heiteren Stimmung wahr&#x017F;cheinlich nicht wenig beige¬<lb/>
tragen. &#x201E;Le&#x017F;en Sie, &#x017F;agte er, und ge&#x017F;tehen Sie, daß<lb/>
das Wohlwollen, das der König mir fortwährend be¬<lb/>
wahrt, und das lebhafte Intere&#x017F;&#x017F;e, das er an den<lb/>
Fort&#x017F;chritten der Literatur und höheren men&#x017F;chlichen<lb/>
Entwickelung nimmt, durchaus geeignet i&#x017F;t, mir Freude<lb/>
zu machen. Und daß ich die&#x017F;en Brief gerade heute er¬<lb/>
hielt, dafür danke ich dem Himmel, als für eine be&#x017F;on¬<lb/>
dere Gun&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Wir &#x017F;prachen darauf über das Theater und drama¬<lb/>
ti&#x017F;che Poe&#x017F;ie. &#x201E;Gozzi, &#x017F;agte Goethe, wollte behaupten,<lb/>
daß es nur &#x017F;echs und dreißig tragi&#x017F;che Situationen<lb/>
gebe. Schiller gab &#x017F;ich alle Mühe, noch mehrere zu<lb/>
finden; allein er fand nicht einmal &#x017F;o viele als Gozzi.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Dieß führte auf einen Artikel des Globe, und<lb/>
zwar auf eine kriti&#x017F;che Beleuchtung des &#x201E;Gu&#x017F;tav Wa&#x017F;a&#x201C;<lb/>
von Arnault. Die Art und Wei&#x017F;e, wie der Recen&#x017F;ent<lb/>
&#x017F;ich dabei benommen, machte Goethen viel Vergnügen<lb/>
und fand &#x017F;einen vollkommenen Beifall. Der Beurthei¬<lb/>
lende hatte &#x017F;ich nämlich damit begnügt, alle Remi¬<lb/>
niscenzen des Autors namhaft zu machen, ohne ihn<lb/>
&#x017F;elber und &#x017F;eine poeti&#x017F;chen Grund&#x017F;ätze weiter anzu¬<lb/>
greifen. &#x201E;Der Temps, fügte Goethe hinzu, hat &#x017F;ich<lb/>
in &#x017F;einer Kritik nicht &#x017F;o wei&#x017F;e benommen. Er maßt<lb/>
&#x017F;ich an, dem Dichter den Weg vor&#x017F;chreiben zu wollen,<lb/>
den er hätte gehen mü&#x017F;&#x017F;en. Dieß i&#x017F;t ein großer Fehler;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[293/0315] Baiern, den er heute erhalten hatte und der zu ſeiner heiteren Stimmung wahrſcheinlich nicht wenig beige¬ tragen. „Leſen Sie, ſagte er, und geſtehen Sie, daß das Wohlwollen, das der König mir fortwährend be¬ wahrt, und das lebhafte Intereſſe, das er an den Fortſchritten der Literatur und höheren menſchlichen Entwickelung nimmt, durchaus geeignet iſt, mir Freude zu machen. Und daß ich dieſen Brief gerade heute er¬ hielt, dafür danke ich dem Himmel, als für eine beſon¬ dere Gunſt.“ Wir ſprachen darauf über das Theater und drama¬ tiſche Poeſie. „Gozzi, ſagte Goethe, wollte behaupten, daß es nur ſechs und dreißig tragiſche Situationen gebe. Schiller gab ſich alle Mühe, noch mehrere zu finden; allein er fand nicht einmal ſo viele als Gozzi.“ Dieß führte auf einen Artikel des Globe, und zwar auf eine kritiſche Beleuchtung des „Guſtav Waſa“ von Arnault. Die Art und Weiſe, wie der Recenſent ſich dabei benommen, machte Goethen viel Vergnügen und fand ſeinen vollkommenen Beifall. Der Beurthei¬ lende hatte ſich nämlich damit begnügt, alle Remi¬ niscenzen des Autors namhaft zu machen, ohne ihn ſelber und ſeine poetiſchen Grundſätze weiter anzu¬ greifen. „Der Temps, fügte Goethe hinzu, hat ſich in ſeiner Kritik nicht ſo weiſe benommen. Er maßt ſich an, dem Dichter den Weg vorſchreiben zu wollen, den er hätte gehen müſſen. Dieß iſt ein großer Fehler;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/315
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/315>, abgerufen am 24.11.2024.