Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

nell. "Ein Hauptspaß dieser niedrig-comischen Personage,
sagte er, bestand darin, daß er zuweilen auf der Bühne
seine Rolle als Schauspieler auf einmal ganz zu ver¬
gessen schien. Er that, als wäre er wieder nach Hause
gekommen, sprach vertraulich mit seiner Familie, erzählte
von dem Stücke, in welchem er gespielt, und von einem
anderen, worin er noch spielen solle; auch genirte er
sich nicht, kleinen Naturbedürfnissen ungehinderte Frei¬
heit zu lassen. "Aber, lieber Mann, rief ihm sodann
seine Frau zu, Du scheinst Dich ja ganz zu vergessen;
bedenke doch die werthe Versammlung, vor welcher Du
Dich befindest! --" E vero! E vero! erwiederte darauf
Pulcinell, sich wieder besinnend, und kehrte unter gro¬
ßem Applaus der Zuschauer in sein voriges Spiel
zurück. Das Theater des Pulcinell ist übrigens von
solchem Ruf, daß Niemand in guter Gesellschaft sich
rühmt, darin gewesen zu seyn. Frauen, wie man den¬
ken kann, gehen überall nicht hin, es wird nur von
Männern besucht."

"Der Pulcinell ist in der Regel eine Art lebendige
Zeitung. Alles, was den Tag über sich in Neapel
Auffallendes zugetragen hat, kann man Abends von
ihm hören. Diese Localinteressen, verbunden mit dem
niedern Volksdialekt, machen es jedoch dem Fremden
fast unmöglich, ihn zu verstehen."

Goethe lenkte das Gespräch auf andere Erinnerun¬
gen seiner früheren Zeit. Er sprach über sein geringes

nell. „Ein Hauptſpaß dieſer niedrig-comiſchen Perſonage,
ſagte er, beſtand darin, daß er zuweilen auf der Bühne
ſeine Rolle als Schauſpieler auf einmal ganz zu ver¬
geſſen ſchien. Er that, als wäre er wieder nach Hauſe
gekommen, ſprach vertraulich mit ſeiner Familie, erzählte
von dem Stücke, in welchem er geſpielt, und von einem
anderen, worin er noch ſpielen ſolle; auch genirte er
ſich nicht, kleinen Naturbedürfniſſen ungehinderte Frei¬
heit zu laſſen. „Aber, lieber Mann, rief ihm ſodann
ſeine Frau zu, Du ſcheinſt Dich ja ganz zu vergeſſen;
bedenke doch die werthe Verſammlung, vor welcher Du
Dich befindeſt! —“ E vero! E vero! erwiederte darauf
Pulcinell, ſich wieder beſinnend, und kehrte unter gro¬
ßem Applaus der Zuſchauer in ſein voriges Spiel
zurück. Das Theater des Pulcinell iſt übrigens von
ſolchem Ruf, daß Niemand in guter Geſellſchaft ſich
rühmt, darin geweſen zu ſeyn. Frauen, wie man den¬
ken kann, gehen überall nicht hin, es wird nur von
Männern beſucht.“

„Der Pulcinell iſt in der Regel eine Art lebendige
Zeitung. Alles, was den Tag über ſich in Neapel
Auffallendes zugetragen hat, kann man Abends von
ihm hören. Dieſe Localintereſſen, verbunden mit dem
niedern Volksdialekt, machen es jedoch dem Fremden
faſt unmöglich, ihn zu verſtehen.“

Goethe lenkte das Geſpräch auf andere Erinnerun¬
gen ſeiner früheren Zeit. Er ſprach über ſein geringes

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0317" n="295"/>
nell</hi>. &#x201E;Ein Haupt&#x017F;paß die&#x017F;er niedrig-comi&#x017F;chen Per&#x017F;onage,<lb/>
&#x017F;agte er, be&#x017F;tand darin, daß er zuweilen auf der Bühne<lb/>
&#x017F;eine Rolle als Schau&#x017F;pieler auf einmal ganz zu ver¬<lb/>
ge&#x017F;&#x017F;en &#x017F;chien. Er that, als wäre er wieder nach Hau&#x017F;e<lb/>
gekommen, &#x017F;prach vertraulich mit &#x017F;einer Familie, erzählte<lb/>
von dem Stücke, in welchem er ge&#x017F;pielt, und von einem<lb/>
anderen, worin er noch &#x017F;pielen &#x017F;olle; auch genirte er<lb/>
&#x017F;ich nicht, kleinen Naturbedürfni&#x017F;&#x017F;en ungehinderte Frei¬<lb/>
heit zu la&#x017F;&#x017F;en. &#x201E;Aber, lieber Mann, rief ihm &#x017F;odann<lb/>
&#x017F;eine Frau zu, Du &#x017F;chein&#x017F;t Dich ja ganz zu verge&#x017F;&#x017F;en;<lb/>
bedenke doch die werthe Ver&#x017F;ammlung, vor welcher Du<lb/>
Dich befinde&#x017F;t! &#x2014;&#x201C; <hi rendition="#aq">E vero</hi>! <hi rendition="#aq">E vero</hi>! erwiederte darauf<lb/>
Pulcinell, &#x017F;ich wieder be&#x017F;innend, und kehrte unter gro¬<lb/>
ßem Applaus der Zu&#x017F;chauer in &#x017F;ein voriges Spiel<lb/>
zurück. Das Theater des Pulcinell i&#x017F;t übrigens von<lb/>
&#x017F;olchem Ruf, daß Niemand in guter Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;ich<lb/>
rühmt, darin gewe&#x017F;en zu &#x017F;eyn. Frauen, wie man den¬<lb/>
ken kann, gehen überall nicht hin, es wird nur von<lb/>
Männern be&#x017F;ucht.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Der Pulcinell i&#x017F;t in der Regel eine Art lebendige<lb/>
Zeitung. Alles, was den Tag über &#x017F;ich in Neapel<lb/>
Auffallendes zugetragen hat, kann man Abends von<lb/>
ihm hören. Die&#x017F;e Localintere&#x017F;&#x017F;en, verbunden mit dem<lb/>
niedern Volksdialekt, machen es jedoch dem Fremden<lb/>
fa&#x017F;t unmöglich, ihn zu ver&#x017F;tehen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Goethe lenkte das Ge&#x017F;präch auf andere Erinnerun¬<lb/>
gen &#x017F;einer früheren Zeit. Er &#x017F;prach über &#x017F;ein geringes<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[295/0317] nell. „Ein Hauptſpaß dieſer niedrig-comiſchen Perſonage, ſagte er, beſtand darin, daß er zuweilen auf der Bühne ſeine Rolle als Schauſpieler auf einmal ganz zu ver¬ geſſen ſchien. Er that, als wäre er wieder nach Hauſe gekommen, ſprach vertraulich mit ſeiner Familie, erzählte von dem Stücke, in welchem er geſpielt, und von einem anderen, worin er noch ſpielen ſolle; auch genirte er ſich nicht, kleinen Naturbedürfniſſen ungehinderte Frei¬ heit zu laſſen. „Aber, lieber Mann, rief ihm ſodann ſeine Frau zu, Du ſcheinſt Dich ja ganz zu vergeſſen; bedenke doch die werthe Verſammlung, vor welcher Du Dich befindeſt! —“ E vero! E vero! erwiederte darauf Pulcinell, ſich wieder beſinnend, und kehrte unter gro¬ ßem Applaus der Zuſchauer in ſein voriges Spiel zurück. Das Theater des Pulcinell iſt übrigens von ſolchem Ruf, daß Niemand in guter Geſellſchaft ſich rühmt, darin geweſen zu ſeyn. Frauen, wie man den¬ ken kann, gehen überall nicht hin, es wird nur von Männern beſucht.“ „Der Pulcinell iſt in der Regel eine Art lebendige Zeitung. Alles, was den Tag über ſich in Neapel Auffallendes zugetragen hat, kann man Abends von ihm hören. Dieſe Localintereſſen, verbunden mit dem niedern Volksdialekt, machen es jedoch dem Fremden faſt unmöglich, ihn zu verſtehen.“ Goethe lenkte das Geſpräch auf andere Erinnerun¬ gen ſeiner früheren Zeit. Er ſprach über ſein geringes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/317
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/317>, abgerufen am 24.11.2024.