nell. "Ein Hauptspaß dieser niedrig-comischen Personage, sagte er, bestand darin, daß er zuweilen auf der Bühne seine Rolle als Schauspieler auf einmal ganz zu ver¬ gessen schien. Er that, als wäre er wieder nach Hause gekommen, sprach vertraulich mit seiner Familie, erzählte von dem Stücke, in welchem er gespielt, und von einem anderen, worin er noch spielen solle; auch genirte er sich nicht, kleinen Naturbedürfnissen ungehinderte Frei¬ heit zu lassen. "Aber, lieber Mann, rief ihm sodann seine Frau zu, Du scheinst Dich ja ganz zu vergessen; bedenke doch die werthe Versammlung, vor welcher Du Dich befindest! --" E vero! E vero! erwiederte darauf Pulcinell, sich wieder besinnend, und kehrte unter gro¬ ßem Applaus der Zuschauer in sein voriges Spiel zurück. Das Theater des Pulcinell ist übrigens von solchem Ruf, daß Niemand in guter Gesellschaft sich rühmt, darin gewesen zu seyn. Frauen, wie man den¬ ken kann, gehen überall nicht hin, es wird nur von Männern besucht."
"Der Pulcinell ist in der Regel eine Art lebendige Zeitung. Alles, was den Tag über sich in Neapel Auffallendes zugetragen hat, kann man Abends von ihm hören. Diese Localinteressen, verbunden mit dem niedern Volksdialekt, machen es jedoch dem Fremden fast unmöglich, ihn zu verstehen."
Goethe lenkte das Gespräch auf andere Erinnerun¬ gen seiner früheren Zeit. Er sprach über sein geringes
nell. „Ein Hauptſpaß dieſer niedrig-comiſchen Perſonage, ſagte er, beſtand darin, daß er zuweilen auf der Bühne ſeine Rolle als Schauſpieler auf einmal ganz zu ver¬ geſſen ſchien. Er that, als wäre er wieder nach Hauſe gekommen, ſprach vertraulich mit ſeiner Familie, erzählte von dem Stücke, in welchem er geſpielt, und von einem anderen, worin er noch ſpielen ſolle; auch genirte er ſich nicht, kleinen Naturbedürfniſſen ungehinderte Frei¬ heit zu laſſen. „Aber, lieber Mann, rief ihm ſodann ſeine Frau zu, Du ſcheinſt Dich ja ganz zu vergeſſen; bedenke doch die werthe Verſammlung, vor welcher Du Dich befindeſt! —“ E vero! E vero! erwiederte darauf Pulcinell, ſich wieder beſinnend, und kehrte unter gro¬ ßem Applaus der Zuſchauer in ſein voriges Spiel zurück. Das Theater des Pulcinell iſt übrigens von ſolchem Ruf, daß Niemand in guter Geſellſchaft ſich rühmt, darin geweſen zu ſeyn. Frauen, wie man den¬ ken kann, gehen überall nicht hin, es wird nur von Männern beſucht.“
„Der Pulcinell iſt in der Regel eine Art lebendige Zeitung. Alles, was den Tag über ſich in Neapel Auffallendes zugetragen hat, kann man Abends von ihm hören. Dieſe Localintereſſen, verbunden mit dem niedern Volksdialekt, machen es jedoch dem Fremden faſt unmöglich, ihn zu verſtehen.“
Goethe lenkte das Geſpräch auf andere Erinnerun¬ gen ſeiner früheren Zeit. Er ſprach über ſein geringes
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ſagte er, beſtand darin, daß er zuweilen auf der Bühne
ſeine Rolle als Schauſpieler auf einmal ganz zu ver¬
geſſen ſchien. Er that, als wäre er wieder nach Hauſe
gekommen, ſprach vertraulich mit ſeiner Familie, erzählte
von dem Stücke, in welchem er geſpielt, und von einem
anderen, worin er noch ſpielen ſolle; auch genirte er
ſich nicht, kleinen Naturbedürfniſſen ungehinderte Frei¬
heit zu laſſen. „Aber, lieber Mann, rief ihm ſodann
ſeine Frau zu, Du ſcheinſt Dich ja ganz zu vergeſſen;
bedenke doch die werthe Verſammlung, vor welcher Du
Dich befindeſt! —“ E vero! E vero! erwiederte darauf
Pulcinell, ſich wieder beſinnend, und kehrte unter gro¬
ßem Applaus der Zuſchauer in ſein voriges Spiel
zurück. Das Theater des Pulcinell iſt übrigens von
ſolchem Ruf, daß Niemand in guter Geſellſchaft ſich
rühmt, darin geweſen zu ſeyn. Frauen, wie man den¬
ken kann, gehen überall nicht hin, es wird nur von
Männern beſucht.“
„Der Pulcinell iſt in der Regel eine Art lebendige
Zeitung. Alles, was den Tag über ſich in Neapel
Auffallendes zugetragen hat, kann man Abends von
ihm hören. Dieſe Localintereſſen, verbunden mit dem
niedern Volksdialekt, machen es jedoch dem Fremden
faſt unmöglich, ihn zu verſtehen.“
Goethe lenkte das Geſpräch auf andere Erinnerun¬
gen ſeiner früheren Zeit. Er ſprach über ſein geringes
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/317>, abgerufen am 24.11.2024.
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