Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

ganz unnöthigerweise mit den Eindrücken solcher Gräuel
belasten!"


Es ist bekannt, daß Goethe kein Freund von Bril¬
len ist.

"Es mag eine Wunderlichkeit von mir seyn, sagte
er mir bei wiederholten Anlässen, aber ich kann es
einmal nicht überwinden. Sowie ein Fremder mit der
Brille auf der Nase zu mir hereintritt, kommt sogleich
eine Verstimmung über mich, der ich nicht Herr werden
kann. Es genirt mich so sehr, daß es einen großen
Theil meines Wohlwollens sogleich auf der Schwelle
hinwegnimmt und meine Gedanken so verdirbt, daß an
eine unbefangene natürliche Entwickelung meines eige¬
nen Innern nicht mehr zu denken ist. Es macht mir
immer den Eindruck des Desobligeanten, ungefähr so,
als wollte ein Fremder mir bei der ersten Begrüßung
sogleich eine Grobheit sagen. Ich empfinde dieses
noch stärker, nachdem ich seit Jahren es habe drucken
lassen, wie fatal mir die Brillen sind. Kommt nun
ein Fremder mit der Brille, so denke ich gleich: er hat
deine neuesten Gedichte nicht gelesen! -- und das ist schon
ein wenig zu seinem Nachtheil; oder er hat sie gelesen,
er kennt deine Eigenheit und setzt sich darüber hinaus,
und das ist noch schlimmer. Der einzige Mensch, bei
dem die Brille mich nicht genirt, ist Zelter; bei allen

ganz unnöthigerweiſe mit den Eindrücken ſolcher Gräuel
belaſten!“


Es iſt bekannt, daß Goethe kein Freund von Bril¬
len iſt.

„Es mag eine Wunderlichkeit von mir ſeyn, ſagte
er mir bei wiederholten Anläſſen, aber ich kann es
einmal nicht überwinden. Sowie ein Fremder mit der
Brille auf der Naſe zu mir hereintritt, kommt ſogleich
eine Verſtimmung über mich, der ich nicht Herr werden
kann. Es genirt mich ſo ſehr, daß es einen großen
Theil meines Wohlwollens ſogleich auf der Schwelle
hinwegnimmt und meine Gedanken ſo verdirbt, daß an
eine unbefangene natürliche Entwickelung meines eige¬
nen Innern nicht mehr zu denken iſt. Es macht mir
immer den Eindruck des Desobligeanten, ungefähr ſo,
als wollte ein Fremder mir bei der erſten Begrüßung
ſogleich eine Grobheit ſagen. Ich empfinde dieſes
noch ſtärker, nachdem ich ſeit Jahren es habe drucken
laſſen, wie fatal mir die Brillen ſind. Kommt nun
ein Fremder mit der Brille, ſo denke ich gleich: er hat
deine neueſten Gedichte nicht geleſen! — und das iſt ſchon
ein wenig zu ſeinem Nachtheil; oder er hat ſie geleſen,
er kennt deine Eigenheit und ſetzt ſich darüber hinaus,
und das iſt noch ſchlimmer. Der einzige Menſch, bei
dem die Brille mich nicht genirt, iſt Zelter; bei allen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0355" n="333"/>
ganz unnöthigerwei&#x017F;e mit den Eindrücken &#x017F;olcher Gräuel<lb/>
bela&#x017F;ten!&#x201C;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="4">
          <dateline rendition="#right">Montag, den 5. April 1830.<lb/></dateline>
          <p>Es i&#x017F;t bekannt, daß Goethe kein Freund von Bril¬<lb/>
len i&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Es mag eine Wunderlichkeit von mir &#x017F;eyn, &#x017F;agte<lb/>
er mir bei wiederholten Anlä&#x017F;&#x017F;en, aber ich kann es<lb/>
einmal nicht überwinden. Sowie ein Fremder mit der<lb/>
Brille auf der Na&#x017F;e zu mir hereintritt, kommt &#x017F;ogleich<lb/>
eine Ver&#x017F;timmung über mich, der ich nicht Herr werden<lb/>
kann. Es genirt mich &#x017F;o &#x017F;ehr, daß es einen großen<lb/>
Theil meines Wohlwollens &#x017F;ogleich auf der Schwelle<lb/>
hinwegnimmt und meine Gedanken &#x017F;o verdirbt, daß an<lb/>
eine unbefangene natürliche Entwickelung meines eige¬<lb/>
nen Innern nicht mehr zu denken i&#x017F;t. Es macht mir<lb/>
immer den Eindruck des Desobligeanten, ungefähr &#x017F;o,<lb/>
als wollte ein Fremder mir bei der er&#x017F;ten Begrüßung<lb/>
&#x017F;ogleich eine Grobheit &#x017F;agen. Ich empfinde die&#x017F;es<lb/>
noch &#x017F;tärker, nachdem ich &#x017F;eit Jahren es habe drucken<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, wie fatal mir die Brillen &#x017F;ind. Kommt nun<lb/>
ein Fremder mit der Brille, &#x017F;o denke ich gleich: er hat<lb/>
deine neue&#x017F;ten Gedichte nicht gele&#x017F;en! &#x2014; und das i&#x017F;t &#x017F;chon<lb/>
ein wenig zu &#x017F;einem Nachtheil; oder er hat &#x017F;ie gele&#x017F;en,<lb/>
er kennt deine Eigenheit und &#x017F;etzt &#x017F;ich darüber hinaus,<lb/>
und das i&#x017F;t noch &#x017F;chlimmer. Der einzige Men&#x017F;ch, bei<lb/>
dem die Brille mich nicht genirt, i&#x017F;t Zelter; bei allen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[333/0355] ganz unnöthigerweiſe mit den Eindrücken ſolcher Gräuel belaſten!“ Montag, den 5. April 1830. Es iſt bekannt, daß Goethe kein Freund von Bril¬ len iſt. „Es mag eine Wunderlichkeit von mir ſeyn, ſagte er mir bei wiederholten Anläſſen, aber ich kann es einmal nicht überwinden. Sowie ein Fremder mit der Brille auf der Naſe zu mir hereintritt, kommt ſogleich eine Verſtimmung über mich, der ich nicht Herr werden kann. Es genirt mich ſo ſehr, daß es einen großen Theil meines Wohlwollens ſogleich auf der Schwelle hinwegnimmt und meine Gedanken ſo verdirbt, daß an eine unbefangene natürliche Entwickelung meines eige¬ nen Innern nicht mehr zu denken iſt. Es macht mir immer den Eindruck des Desobligeanten, ungefähr ſo, als wollte ein Fremder mir bei der erſten Begrüßung ſogleich eine Grobheit ſagen. Ich empfinde dieſes noch ſtärker, nachdem ich ſeit Jahren es habe drucken laſſen, wie fatal mir die Brillen ſind. Kommt nun ein Fremder mit der Brille, ſo denke ich gleich: er hat deine neueſten Gedichte nicht geleſen! — und das iſt ſchon ein wenig zu ſeinem Nachtheil; oder er hat ſie geleſen, er kennt deine Eigenheit und ſetzt ſich darüber hinaus, und das iſt noch ſchlimmer. Der einzige Menſch, bei dem die Brille mich nicht genirt, iſt Zelter; bei allen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/355
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/355>, abgerufen am 28.11.2024.