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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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sprächen an einander hingingen. Ich kann Ihnen so
wenig den Herrn als die Dame nennen; aber es thut
nichts zur Sache. Sie unterhielten sich also und
schienen an nichts zu denken, -- als mit einemmal ihre
Köpfe sich gegen einander neigten und sie sich gegen¬
seitig einen herzhaften Kuß gaben. Sie schlugen darauf
ihre erste Richtung wieder ein und setzten sehr ernst
ihre Unterhaltung fort, als ob nichts passirt wäre.
"Haben Sie es gesehen? rief mein Freund voll Erstau¬
nen; darf ich meinen Augen trauen?" Ich habe es
gesehen, erwiederte ich ganz ruhig, -- aber ich glaube es
nicht!"


Wir sprachen über die Metamorphose der Pflanze,
und namentlich über Decandolle's Lehre von der Sym¬
metrie
, die Goethe für eine bloße Illusion hält.

"Die Natur fügte er hinzu, ergiebt sich nicht einem
Jeden. Sie erweiset sich vielmehr gegen Viele wie
ein neckisches junges Mädchen, das uns durch tausend
Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es zu
fassen und zu besitzen glauben, unsern Armen ent¬
schlüpft."


Heute war zu Belvedere die Versammlung der Ge¬
sellschaft zur Beförderung des Ackerbaues; auch erste

ſprächen an einander hingingen. Ich kann Ihnen ſo
wenig den Herrn als die Dame nennen; aber es thut
nichts zur Sache. Sie unterhielten ſich alſo und
ſchienen an nichts zu denken, — als mit einemmal ihre
Köpfe ſich gegen einander neigten und ſie ſich gegen¬
ſeitig einen herzhaften Kuß gaben. Sie ſchlugen darauf
ihre erſte Richtung wieder ein und ſetzten ſehr ernſt
ihre Unterhaltung fort, als ob nichts paſſirt wäre.
„Haben Sie es geſehen? rief mein Freund voll Erſtau¬
nen; darf ich meinen Augen trauen?“ Ich habe es
geſehen, erwiederte ich ganz ruhig, — aber ich glaube es
nicht!“


Wir ſprachen über die Metamorphoſe der Pflanze,
und namentlich über Decandolle's Lehre von der Sym¬
metrie
, die Goethe für eine bloße Illuſion hält.

„Die Natur fügte er hinzu, ergiebt ſich nicht einem
Jeden. Sie erweiſet ſich vielmehr gegen Viele wie
ein neckiſches junges Mädchen, das uns durch tauſend
Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es zu
faſſen und zu beſitzen glauben, unſern Armen ent¬
ſchlüpft.“


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[359/0381] ſprächen an einander hingingen. Ich kann Ihnen ſo wenig den Herrn als die Dame nennen; aber es thut nichts zur Sache. Sie unterhielten ſich alſo und ſchienen an nichts zu denken, — als mit einemmal ihre Köpfe ſich gegen einander neigten und ſie ſich gegen¬ ſeitig einen herzhaften Kuß gaben. Sie ſchlugen darauf ihre erſte Richtung wieder ein und ſetzten ſehr ernſt ihre Unterhaltung fort, als ob nichts paſſirt wäre. „Haben Sie es geſehen? rief mein Freund voll Erſtau¬ nen; darf ich meinen Augen trauen?“ Ich habe es geſehen, erwiederte ich ganz ruhig, — aber ich glaube es nicht!“ Montag, den 2. Auguſt 1831*. Wir ſprachen über die Metamorphoſe der Pflanze, und namentlich über Decandolle's Lehre von der Sym¬ metrie, die Goethe für eine bloße Illuſion hält. „Die Natur fügte er hinzu, ergiebt ſich nicht einem Jeden. Sie erweiſet ſich vielmehr gegen Viele wie ein neckiſches junges Mädchen, das uns durch tauſend Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es zu faſſen und zu beſitzen glauben, unſern Armen ent¬ ſchlüpft.“ Mittwoch, den 19. October 1831*. Heute war zu Belvedere die Verſammlung der Ge¬ ſellſchaft zur Beförderung des Ackerbaues; auch erſte

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/381>, abgerufen am 30.11.2024.