Nach Tische und als die Uebrigen gegangen waren blieb ich bei Goethe sitzen und verhandelte mit ihm noch mancherlei Gutes.
Wir sprachen über die englische Literatur, über die Größe Shakspeare's, und welch einen ungünstigen Stand alle englischen dramatischen Schriftsteller gehabt, die nach jenem poetischen Riesen gekommen.
"Ein dramatisches Talent, fuhr Goethe fort, wenn es bedeutend war, konnte nicht umhin, von Shakspeare Notiz zu nehmen, ja es konnte nicht umhin, ihn zu studiren. Studirte es ihn aber, so mußte ihm bewußt werden, daß Shakspeare die ganze Menschennatur nach allen Richtungen hin, und in allen Tiefen und Höhen, bereits erschöpft habe, und daß im Grunde für ihn, den Nachkömmling, nichts mehr zu thun übrig bleibe. Und woher hätte Einer den Muth nehmen sollen, nur die Feder anzusetzen, wenn er sich solcher bereits vor¬ handener unergründlicher und unerreichbarer Vortrefflich¬ keiten in ernster anerkennender Seele bewußt war!"
"Da hatte ich es freilich vor funfzig Jahren in meinem lieben Deutschland besser. Ich konnte mich sehr bald mit dem Vorhandenen abfinden, es konnte mir nicht lange imponiren und mich nicht sehr aufhalten. Ich ließ die deutsche Literatur und das Studium derselben sehr bald hinter mir und wendete mich zum Leben und zur Production. So nach und nach vorschreitend ging ich in meiner natürlichen Entwickelung fort und bildete
Nach Tiſche und als die Uebrigen gegangen waren blieb ich bei Goethe ſitzen und verhandelte mit ihm noch mancherlei Gutes.
Wir ſprachen über die engliſche Literatur, über die Größe Shakſpeare's, und welch einen ungünſtigen Stand alle engliſchen dramatiſchen Schriftſteller gehabt, die nach jenem poetiſchen Rieſen gekommen.
„Ein dramatiſches Talent, fuhr Goethe fort, wenn es bedeutend war, konnte nicht umhin, von Shakſpeare Notiz zu nehmen, ja es konnte nicht umhin, ihn zu ſtudiren. Studirte es ihn aber, ſo mußte ihm bewußt werden, daß Shakſpeare die ganze Menſchennatur nach allen Richtungen hin, und in allen Tiefen und Höhen, bereits erſchöpft habe, und daß im Grunde für ihn, den Nachkömmling, nichts mehr zu thun übrig bleibe. Und woher hätte Einer den Muth nehmen ſollen, nur die Feder anzuſetzen, wenn er ſich ſolcher bereits vor¬ handener unergründlicher und unerreichbarer Vortrefflich¬ keiten in ernſter anerkennender Seele bewußt war!“
„Da hatte ich es freilich vor funfzig Jahren in meinem lieben Deutſchland beſſer. Ich konnte mich ſehr bald mit dem Vorhandenen abfinden, es konnte mir nicht lange imponiren und mich nicht ſehr aufhalten. Ich ließ die deutſche Literatur und das Studium derſelben ſehr bald hinter mir und wendete mich zum Leben und zur Production. So nach und nach vorſchreitend ging ich in meiner natürlichen Entwickelung fort und bildete
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0056"n="34"/><p>Nach Tiſche und als die Uebrigen gegangen waren<lb/>
blieb ich bei Goethe ſitzen und verhandelte mit ihm<lb/>
noch mancherlei Gutes.</p><lb/><p>Wir ſprachen über die engliſche Literatur, über die<lb/>
Größe Shakſpeare's, und welch einen ungünſtigen Stand<lb/>
alle engliſchen dramatiſchen Schriftſteller gehabt, die<lb/><hirendition="#g">nach</hi> jenem poetiſchen Rieſen gekommen.</p><lb/><p>„Ein dramatiſches Talent, fuhr Goethe fort, wenn<lb/>
es bedeutend war, konnte nicht umhin, von Shakſpeare<lb/>
Notiz zu nehmen, ja es konnte nicht umhin, ihn zu<lb/>ſtudiren. Studirte es ihn aber, ſo mußte ihm bewußt<lb/>
werden, daß Shakſpeare die ganze Menſchennatur nach<lb/>
allen Richtungen hin, und in allen Tiefen und Höhen,<lb/>
bereits erſchöpft habe, und daß im Grunde für ihn,<lb/>
den Nachkömmling, nichts mehr zu thun übrig bleibe.<lb/>
Und woher hätte Einer den Muth nehmen ſollen, nur<lb/>
die Feder anzuſetzen, wenn er ſich ſolcher bereits vor¬<lb/>
handener unergründlicher und unerreichbarer Vortrefflich¬<lb/>
keiten in ernſter anerkennender Seele bewußt war!“</p><lb/><p>„Da hatte ich es freilich vor funfzig Jahren in<lb/>
meinem lieben Deutſchland beſſer. Ich konnte mich<lb/>ſehr bald mit dem Vorhandenen abfinden, es konnte<lb/>
mir nicht lange imponiren und mich nicht ſehr aufhalten.<lb/>
Ich ließ die deutſche Literatur und das Studium derſelben<lb/>ſehr bald hinter mir und wendete mich zum Leben und<lb/>
zur Production. So nach und nach vorſchreitend ging<lb/>
ich in meiner natürlichen Entwickelung fort und bildete<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[34/0056]
Nach Tiſche und als die Uebrigen gegangen waren
blieb ich bei Goethe ſitzen und verhandelte mit ihm
noch mancherlei Gutes.
Wir ſprachen über die engliſche Literatur, über die
Größe Shakſpeare's, und welch einen ungünſtigen Stand
alle engliſchen dramatiſchen Schriftſteller gehabt, die
nach jenem poetiſchen Rieſen gekommen.
„Ein dramatiſches Talent, fuhr Goethe fort, wenn
es bedeutend war, konnte nicht umhin, von Shakſpeare
Notiz zu nehmen, ja es konnte nicht umhin, ihn zu
ſtudiren. Studirte es ihn aber, ſo mußte ihm bewußt
werden, daß Shakſpeare die ganze Menſchennatur nach
allen Richtungen hin, und in allen Tiefen und Höhen,
bereits erſchöpft habe, und daß im Grunde für ihn,
den Nachkömmling, nichts mehr zu thun übrig bleibe.
Und woher hätte Einer den Muth nehmen ſollen, nur
die Feder anzuſetzen, wenn er ſich ſolcher bereits vor¬
handener unergründlicher und unerreichbarer Vortrefflich¬
keiten in ernſter anerkennender Seele bewußt war!“
„Da hatte ich es freilich vor funfzig Jahren in
meinem lieben Deutſchland beſſer. Ich konnte mich
ſehr bald mit dem Vorhandenen abfinden, es konnte
mir nicht lange imponiren und mich nicht ſehr aufhalten.
Ich ließ die deutſche Literatur und das Studium derſelben
ſehr bald hinter mir und wendete mich zum Leben und
zur Production. So nach und nach vorſchreitend ging
ich in meiner natürlichen Entwickelung fort und bildete
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/56>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.