mich nach und nach zu den Productionen heran, die mir von Epoche zu Epoche gelangen. Und meine Idee vom Vortrefflichen war auf jeder meiner Lebens- und Entwickelungsstufen nie viel größer, als was ich auch auf jeder Stufe zu machen im Stande war. Wäre ich aber als Engländer geboren, und wären alle jene viel¬ fältigen Meisterwerke bei meinem ersten jugendlichen Erwachen mit all ihrer Gewalt auf mich eingedrungen, es hätte mich überwältigt und ich hätte nicht gewußt, was ich hätte thun wollen. Ich hätte nicht so leichten, frischen Muthes vorschreiten können, sondern mich sicher erst lange besinnen und umsehen müssen, um irgendwo einen neuen Ausweg zu finden."
Ich lenkte das Gespräch auf Shakspeare zurück. Wenn man ihn, sagte ich, aus der englischen Literatur gewissermaßen herausreißt und als einen Einzelnen nach Deutschland versetzt und betrachtet, so kann man nicht umhin, seine riesenhafte Größe als ein Wunder anzustaunen. Sucht man ihn aber in seiner Heimath auf, versetzt man sich auf den Boden seines Landes und in die Atmosphäre des Jahrhunderts in dem er lebte, studirt man ferner seine Mitlebenden und unmit¬ telbaren Nachfolger, athmet man die Kraft, die uns aus Ben Jonson, Massinger, Marlow und Beaumont und Fletcher anweht, so bleibt zwar Shakspeare immer noch eine gewaltig hervorragende Größe, aber man kommt doch zu der Ueberzeugung, daß viele Wunder seines
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mich nach und nach zu den Productionen heran, die mir von Epoche zu Epoche gelangen. Und meine Idee vom Vortrefflichen war auf jeder meiner Lebens- und Entwickelungsſtufen nie viel größer, als was ich auch auf jeder Stufe zu machen im Stande war. Wäre ich aber als Engländer geboren, und wären alle jene viel¬ fältigen Meiſterwerke bei meinem erſten jugendlichen Erwachen mit all ihrer Gewalt auf mich eingedrungen, es hätte mich überwältigt und ich hätte nicht gewußt, was ich hätte thun wollen. Ich hätte nicht ſo leichten, friſchen Muthes vorſchreiten können, ſondern mich ſicher erſt lange beſinnen und umſehen müſſen, um irgendwo einen neuen Ausweg zu finden.“
Ich lenkte das Geſpräch auf Shakſpeare zurück. Wenn man ihn, ſagte ich, aus der engliſchen Literatur gewiſſermaßen herausreißt und als einen Einzelnen nach Deutſchland verſetzt und betrachtet, ſo kann man nicht umhin, ſeine rieſenhafte Größe als ein Wunder anzuſtaunen. Sucht man ihn aber in ſeiner Heimath auf, verſetzt man ſich auf den Boden ſeines Landes und in die Atmosphäre des Jahrhunderts in dem er lebte, ſtudirt man ferner ſeine Mitlebenden und unmit¬ telbaren Nachfolger, athmet man die Kraft, die uns aus Ben Jonſon, Maſſinger, Marlow und Beaumont und Fletcher anweht, ſo bleibt zwar Shakſpeare immer noch eine gewaltig hervorragende Größe, aber man kommt doch zu der Ueberzeugung, daß viele Wunder ſeines
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mich nach und nach zu den Productionen heran, die
mir von Epoche zu Epoche gelangen. Und meine Idee
vom Vortrefflichen war auf jeder meiner Lebens- und
Entwickelungsſtufen nie viel größer, als was ich auch
auf jeder Stufe zu machen im Stande war. Wäre ich
aber als Engländer geboren, und wären alle jene viel¬
fältigen Meiſterwerke bei meinem erſten jugendlichen
Erwachen mit all ihrer Gewalt auf mich eingedrungen,
es hätte mich überwältigt und ich hätte nicht gewußt,
was ich hätte thun wollen. Ich hätte nicht ſo leichten,
friſchen Muthes vorſchreiten können, ſondern mich ſicher
erſt lange beſinnen und umſehen müſſen, um irgendwo
einen neuen Ausweg zu finden.“
Ich lenkte das Geſpräch auf Shakſpeare zurück.
Wenn man ihn, ſagte ich, aus der engliſchen Literatur
gewiſſermaßen herausreißt und als einen Einzelnen
nach Deutſchland verſetzt und betrachtet, ſo kann man
nicht umhin, ſeine rieſenhafte Größe als ein Wunder
anzuſtaunen. Sucht man ihn aber in ſeiner Heimath
auf, verſetzt man ſich auf den Boden ſeines Landes
und in die Atmosphäre des Jahrhunderts in dem er
lebte, ſtudirt man ferner ſeine Mitlebenden und unmit¬
telbaren Nachfolger, athmet man die Kraft, die uns aus
Ben Jonſon, Maſſinger, Marlow und Beaumont und
Fletcher anweht, ſo bleibt zwar Shakſpeare immer noch
eine gewaltig hervorragende Größe, aber man kommt
doch zu der Ueberzeugung, daß viele Wunder ſeines
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/57>, abgerufen am 23.11.2024.
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