Grenzen nicht erweitern können. In dem unbegreif¬ lichen Gedicht seines jüngsten Gerichts hat er das Aeußerste gethan, was er zu thun fähig war."
Das Gespräch lenkte sich sodann auf den italie¬ nischen Dichter Torquato Tasso, und wie sich dieser zu Lord Byron verhalte; wo denn Goethe die große Ueberlegenheit des Engländers an Geist, Welt und productiver Kraft nicht verhehlen konnte. "Man darf, fügte er hinzu, beide Dichter nicht mit einander ver¬ gleichen, ohne den Einen durch den Andern zu vernichten. Byron ist der brennende Dornstrauch, der die heilige Ceder des Libanon in Asche legt. Das große Epos des Italieners hat seinen Ruhm durch Jahrhunderte behauptet; aber mit einer einzigen Zeile des Don Juan könnte man das ganze Befreite Jerusalem vergiften."
Mittwoch, den 26. Mai 1824.
Ich nahm heute Abschied von Goethe, um meine Lieben in Hannover und sodann den Rhein zu besuchen, wie es längst meine Absicht gewesen. Goethe war sehr herzlich und schloß mich in seine Arme. "Wenn Sie in Hannover bei Rehberg's, sagte er, vielleicht meine alte Jugendfreundin, Charlotte Kestner, sehen, so sagen Sie ihr Gutes von mir. In Frankfurt werde ich Sie meinen Freunden Willemers, dem Grafen Reinhardt- und Schlosser's empfehlen. Auch ins
Grenzen nicht erweitern können. In dem unbegreif¬ lichen Gedicht ſeines jüngſten Gerichts hat er das Aeußerſte gethan, was er zu thun fähig war.“
Das Geſpräch lenkte ſich ſodann auf den italie¬ niſchen Dichter Torquato Taſſo, und wie ſich dieſer zu Lord Byron verhalte; wo denn Goethe die große Ueberlegenheit des Engländers an Geiſt, Welt und productiver Kraft nicht verhehlen konnte. „Man darf, fügte er hinzu, beide Dichter nicht mit einander ver¬ gleichen, ohne den Einen durch den Andern zu vernichten. Byron iſt der brennende Dornſtrauch, der die heilige Ceder des Libanon in Aſche legt. Das große Epos des Italieners hat ſeinen Ruhm durch Jahrhunderte behauptet; aber mit einer einzigen Zeile des Don Juan könnte man das ganze Befreite Jeruſalem vergiften.“
Mittwoch, den 26. Mai 1824.
Ich nahm heute Abſchied von Goethe, um meine Lieben in Hannover und ſodann den Rhein zu beſuchen, wie es längſt meine Abſicht geweſen. Goethe war ſehr herzlich und ſchloß mich in ſeine Arme. „Wenn Sie in Hannover bei Rehberg's, ſagte er, vielleicht meine alte Jugendfreundin, Charlotte Keſtner, ſehen, ſo ſagen Sie ihr Gutes von mir. In Frankfurt werde ich Sie meinen Freunden Willemers, dem Grafen Reinhardt- und Schloſſer's empfehlen. Auch ins
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Grenzen nicht erweitern können. In dem unbegreif¬
lichen Gedicht ſeines jüngſten Gerichts hat er das
Aeußerſte gethan, was er zu thun fähig war.“
Das Geſpräch lenkte ſich ſodann auf den italie¬
niſchen Dichter Torquato Taſſo, und wie ſich dieſer
zu Lord Byron verhalte; wo denn Goethe die große
Ueberlegenheit des Engländers an Geiſt, Welt und
productiver Kraft nicht verhehlen konnte. „Man darf,
fügte er hinzu, beide Dichter nicht mit einander ver¬
gleichen, ohne den Einen durch den Andern zu vernichten.
Byron iſt der brennende Dornſtrauch, der die heilige
Ceder des Libanon in Aſche legt. Das große Epos
des Italieners hat ſeinen Ruhm durch Jahrhunderte
behauptet; aber mit einer einzigen Zeile des Don
Juan könnte man das ganze Befreite Jeruſalem
vergiften.“
Mittwoch, den 26. Mai 1824.
Ich nahm heute Abſchied von Goethe, um meine
Lieben in Hannover und ſodann den Rhein zu beſuchen,
wie es längſt meine Abſicht geweſen. Goethe war ſehr
herzlich und ſchloß mich in ſeine Arme. „Wenn Sie
in Hannover bei Rehberg's, ſagte er, vielleicht meine
alte Jugendfreundin, Charlotte Keſtner, ſehen,
ſo ſagen Sie ihr Gutes von mir. In Frankfurt werde
ich Sie meinen Freunden Willemers, dem Grafen
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/77>, abgerufen am 27.11.2024.
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