Das Kind ist in den ersten Jahren nicht bloß dem Körper nach unfähig, sich selber zu helfen, es steht auch mit seiner Seele un- ter Vormundschaft. Es kann sich wohl der Sinne bedienen, und das Leben der Seele dämmert allmählich auf, aber so lange es den vollen Gebrauch der Vernunft und des freien Willens nicht besitzt, steht es in geisti- ger Abhängigkeit von seinen Erziehern. Ihr Wort ist ihm Wahrheit, es glaubt, was sie sa- gen, ihr Wille ist ihm Gesetz, es muß gern oder ungern demselben sich fügen. Schon in dieser Zeit läßt sich vieles für die Erziehung thun, wie im vorausgehenden angedeutet wurde. Aber während das Kind noch abhängig ist, muß man schon jene Zeit im Auge haben, in der es frei und sein eigener Herr sein wird.
Zunächst geht im Kinde selber eine Ver- änderung vor. Es fängt an zu denken, und beschäftigt sich auch mit den Gründen von dem, was ihm befohlen wird. Es erlangt den Gebrauch des freien Willens und von dort an ist sein Gehorsam etwas ganz an-
19. Die Zweite Periode der Erziehung.
Das Kind ist in den ersten Jahren nicht bloß dem Körper nach unfähig, sich selber zu helfen, es steht auch mit seiner Seele un- ter Vormundschaft. Es kann sich wohl der Sinne bedienen, und das Leben der Seele dämmert allmählich auf, aber so lange es den vollen Gebrauch der Vernunft und des freien Willens nicht besitzt, steht es in geisti- ger Abhängigkeit von seinen Erziehern. Ihr Wort ist ihm Wahrheit, es glaubt, was sie sa- gen, ihr Wille ist ihm Gesetz, es muß gern oder ungern demselben sich fügen. Schon in dieser Zeit läßt sich vieles für die Erziehung thun, wie im vorausgehenden angedeutet wurde. Aber während das Kind noch abhängig ist, muß man schon jene Zeit im Auge haben, in der es frei und sein eigener Herr sein wird.
Zunächst geht im Kinde selber eine Ver- änderung vor. Es fängt an zu denken, und beschäftigt sich auch mit den Gründen von dem, was ihm befohlen wird. Es erlangt den Gebrauch des freien Willens und von dort an ist sein Gehorsam etwas ganz an-
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19. Die Zweite Periode der Erziehung.
Das Kind ist in den ersten Jahren nicht
bloß dem Körper nach unfähig, sich selber
zu helfen, es steht auch mit seiner Seele un-
ter Vormundschaft. Es kann sich wohl der
Sinne bedienen, und das Leben der Seele
dämmert allmählich auf, aber so lange es
den vollen Gebrauch der Vernunft und des
freien Willens nicht besitzt, steht es in geisti-
ger Abhängigkeit von seinen Erziehern. Ihr
Wort ist ihm Wahrheit, es glaubt, was sie sa-
gen, ihr Wille ist ihm Gesetz, es muß gern oder
ungern demselben sich fügen. Schon in dieser
Zeit läßt sich vieles für die Erziehung thun,
wie im vorausgehenden angedeutet wurde.
Aber während das Kind noch abhängig ist,
muß man schon jene Zeit im Auge haben,
in der es frei und sein eigener Herr sein
wird.
Zunächst geht im Kinde selber eine Ver-
änderung vor. Es fängt an zu denken, und
beschäftigt sich auch mit den Gründen von
dem, was ihm befohlen wird. Es erlangt
den Gebrauch des freien Willens und von
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Egger, Augustinus: Der christliche Vater in der modernen Welt. Erbauungs- und Gebetbuch. Einsiedeln u. a., [1895], S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/egger_vater_1895/150>, abgerufen am 22.11.2024.
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