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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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und die der eine mehr, der andere weniger und kei¬
ner ganz auszudrücken vermag, wie sie ihm vor¬
schwebt? Wie weniges verstehen wir von den Tha¬
ten, ja, selbst von den Worten eines Menschen! --
Ja, wenn sie erst Musik im Leibe hätten! fiel ihm
Leontin lachend in's Wort. Aber die meisten fin¬
gern wirklich ganz ernsthaft auf Hölzchen ohne Sai¬
ten, weil es einmal so hergebracht ist und das vor¬
liegende Blatt heruntergespielt werden muß; aber
das, was das ganze Handthieren eigentlich vorstel¬
len soll, die Musik selbst und Bedeutung des Le¬
bens, haben die närrischgewordenen Musikanten
darüber vergessen und verlohren.

In diesem Augenblicke kam ein neues Paar bey
dem Fenster angeflogen, alles machte ehrerbietig
Platz und sie erblickten ein wunderschönes Mädchen,
das sich durch seinen Anstand vor allen den anderen
auszeichnete. Sie lehnte lächelnd die zarte, glü¬
hende Wange an die Fensterscheibe, um sie abzu¬
kühlen. Darauf öffnete sie gar das Fenster, theil¬
te zierlich ihre Haare, durch die ein Rosenkranz ge¬
stochten war, nach beyden Seiten über die Stirne,
und schaute, so, wie in Gedanken versunken, lange,
in die Nacht hinaus. -- Leontin und Friedrich
waren ihr dabey so nahe, daß sie ihren Athem hö¬
ren konnten; ihre stillen, großen Augen, in deren
feuchtem Spiegel der Mond widerglänzte, standen
grade vor ihnen. Wo ist das Fräulein? rief auf
einmal eine Stimme von innen, und das Mädchen

wendete

und die der eine mehr, der andere weniger und kei¬
ner ganz auszudrücken vermag, wie ſie ihm vor¬
ſchwebt? Wie weniges verſtehen wir von den Tha¬
ten, ja, ſelbſt von den Worten eines Menſchen! —
Ja, wenn ſie erſt Muſik im Leibe hätten! fiel ihm
Leontin lachend in's Wort. Aber die meiſten fin¬
gern wirklich ganz ernſthaft auf Hölzchen ohne Sai¬
ten, weil es einmal ſo hergebracht iſt und das vor¬
liegende Blatt heruntergeſpielt werden muß; aber
das, was das ganze Handthieren eigentlich vorſtel¬
len ſoll, die Muſik ſelbſt und Bedeutung des Le¬
bens, haben die närriſchgewordenen Muſikanten
darüber vergeſſen und verlohren.

In dieſem Augenblicke kam ein neues Paar bey
dem Fenſter angeflogen, alles machte ehrerbietig
Platz und ſie erblickten ein wunderſchönes Mädchen,
das ſich durch ſeinen Anſtand vor allen den anderen
auszeichnete. Sie lehnte lächelnd die zarte, glü¬
hende Wange an die Fenſterſcheibe, um ſie abzu¬
kühlen. Darauf öffnete ſie gar das Fenſter, theil¬
te zierlich ihre Haare, durch die ein Roſenkranz ge¬
ſtochten war, nach beyden Seiten über die Stirne,
und ſchaute, ſo, wie in Gedanken verſunken, lange,
in die Nacht hinaus. — Leontin und Friedrich
waren ihr dabey ſo nahe, daß ſie ihren Athem hö¬
ren konnten; ihre ſtillen, großen Augen, in deren
feuchtem Spiegel der Mond widerglänzte, ſtanden
grade vor ihnen. Wo iſt das Fräulein? rief auf
einmal eine Stimme von innen, und das Mädchen

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[96/0102] und die der eine mehr, der andere weniger und kei¬ ner ganz auszudrücken vermag, wie ſie ihm vor¬ ſchwebt? Wie weniges verſtehen wir von den Tha¬ ten, ja, ſelbſt von den Worten eines Menſchen! — Ja, wenn ſie erſt Muſik im Leibe hätten! fiel ihm Leontin lachend in's Wort. Aber die meiſten fin¬ gern wirklich ganz ernſthaft auf Hölzchen ohne Sai¬ ten, weil es einmal ſo hergebracht iſt und das vor¬ liegende Blatt heruntergeſpielt werden muß; aber das, was das ganze Handthieren eigentlich vorſtel¬ len ſoll, die Muſik ſelbſt und Bedeutung des Le¬ bens, haben die närriſchgewordenen Muſikanten darüber vergeſſen und verlohren. In dieſem Augenblicke kam ein neues Paar bey dem Fenſter angeflogen, alles machte ehrerbietig Platz und ſie erblickten ein wunderſchönes Mädchen, das ſich durch ſeinen Anſtand vor allen den anderen auszeichnete. Sie lehnte lächelnd die zarte, glü¬ hende Wange an die Fenſterſcheibe, um ſie abzu¬ kühlen. Darauf öffnete ſie gar das Fenſter, theil¬ te zierlich ihre Haare, durch die ein Roſenkranz ge¬ ſtochten war, nach beyden Seiten über die Stirne, und ſchaute, ſo, wie in Gedanken verſunken, lange, in die Nacht hinaus. — Leontin und Friedrich waren ihr dabey ſo nahe, daß ſie ihren Athem hö¬ ren konnten; ihre ſtillen, großen Augen, in deren feuchtem Spiegel der Mond widerglänzte, ſtanden grade vor ihnen. Wo iſt das Fräulein? rief auf einmal eine Stimme von innen, und das Mädchen wendete

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/102>, abgerufen am 27.11.2024.