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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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tet; aber es war die deutlichste und vollendetste
Figur. Es schien, als wäre die irdische, lebens¬
lustige Schönheit, von dem Glanze jener himmli¬
schen berührt, in ihrer bachantischen Stellung plötz¬
lich so erstarrt. Je länger man das Ganze betrach¬
tete, je mehr und mehr wurde das Zauberbild von
allen Seiten lebendig. Die Glorie der mittelsten
Figur spielte in den Pflanzengewinden und den
zitternden Blätterspitzen der nächststehenden Bäume.
Im Hintergrunde sah man noch einige Streifen des
Abendroths am Himmel stehen, fernes dunkel¬
blaues Gebirg und hin und wieder den Strom aus
der weiten Tiefe wie Silber aufblickend. Die gan¬
ze Gegend schien in erwartungsvoller Stille zu
feyern, wie vor einem großen Morgen, der das
geheimnißvoll gebundene Leben in herrlicher Pracht
lösen soll.

Friedrich war freudig zusammengefahren, als
der Vorhang sich plötzlich eröffnete, denn er hatte
in der mittelsten Figur mit dem Kreutze sogleich sei¬
ne Rosa erkannt. Wie wir einen geliebten köstli¬
chen Stein mit dem Kostbarsten sorgfältig umfas¬
sen, so schien auch ihm der herrliche Kreis der ge¬
stirnten Nacht draussen nur eine Folie um das schö¬
ne Bild der Geliebten, zu welcher Aller Augen un¬
widerstehlich hingezogen wurden. An ihren großen,
sinnigen Augen entzündete sich in seiner Brust die
Macht hoher, freudiger Entschlüsse und Gedanken,
das Abendroth draussen war ihm die Aurora eines
künftigen, weiten, herrlichen Lebens und seine ganze

tet; aber es war die deutlichſte und vollendetſte
Figur. Es ſchien, als wäre die irdiſche, lebens¬
luſtige Schönheit, von dem Glanze jener himmli¬
ſchen berührt, in ihrer bachantiſchen Stellung plötz¬
lich ſo erſtarrt. Je länger man das Ganze betrach¬
tete, je mehr und mehr wurde das Zauberbild von
allen Seiten lebendig. Die Glorie der mittelſten
Figur ſpielte in den Pflanzengewinden und den
zitternden Blätterſpitzen der nächſtſtehenden Bäume.
Im Hintergrunde ſah man noch einige Streifen des
Abendroths am Himmel ſtehen, fernes dunkel¬
blaues Gebirg und hin und wieder den Strom aus
der weiten Tiefe wie Silber aufblickend. Die gan¬
ze Gegend ſchien in erwartungsvoller Stille zu
feyern, wie vor einem großen Morgen, der das
geheimnißvoll gebundene Leben in herrlicher Pracht
löſen ſoll.

Friedrich war freudig zuſammengefahren, als
der Vorhang ſich plötzlich eröffnete, denn er hatte
in der mittelſten Figur mit dem Kreutze ſogleich ſei¬
ne Roſa erkannt. Wie wir einen geliebten köſtli¬
chen Stein mit dem Koſtbarſten ſorgfältig umfaſ¬
ſen, ſo ſchien auch ihm der herrliche Kreis der ge¬
ſtirnten Nacht drauſſen nur eine Folie um das ſchö¬
ne Bild der Geliebten, zu welcher Aller Augen un¬
widerſtehlich hingezogen wurden. An ihren großen,
ſinnigen Augen entzündete ſich in ſeiner Bruſt die
Macht hoher, freudiger Entſchlüſſe und Gedanken,
das Abendroth drauſſen war ihm die Aurora eines
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[200/0206] tet; aber es war die deutlichſte und vollendetſte Figur. Es ſchien, als wäre die irdiſche, lebens¬ luſtige Schönheit, von dem Glanze jener himmli¬ ſchen berührt, in ihrer bachantiſchen Stellung plötz¬ lich ſo erſtarrt. Je länger man das Ganze betrach¬ tete, je mehr und mehr wurde das Zauberbild von allen Seiten lebendig. Die Glorie der mittelſten Figur ſpielte in den Pflanzengewinden und den zitternden Blätterſpitzen der nächſtſtehenden Bäume. Im Hintergrunde ſah man noch einige Streifen des Abendroths am Himmel ſtehen, fernes dunkel¬ blaues Gebirg und hin und wieder den Strom aus der weiten Tiefe wie Silber aufblickend. Die gan¬ ze Gegend ſchien in erwartungsvoller Stille zu feyern, wie vor einem großen Morgen, der das geheimnißvoll gebundene Leben in herrlicher Pracht löſen ſoll. Friedrich war freudig zuſammengefahren, als der Vorhang ſich plötzlich eröffnete, denn er hatte in der mittelſten Figur mit dem Kreutze ſogleich ſei¬ ne Roſa erkannt. Wie wir einen geliebten köſtli¬ chen Stein mit dem Koſtbarſten ſorgfältig umfaſ¬ ſen, ſo ſchien auch ihm der herrliche Kreis der ge¬ ſtirnten Nacht drauſſen nur eine Folie um das ſchö¬ ne Bild der Geliebten, zu welcher Aller Augen un¬ widerſtehlich hingezogen wurden. An ihren großen, ſinnigen Augen entzündete ſich in ſeiner Bruſt die Macht hoher, freudiger Entſchlüſſe und Gedanken, das Abendroth drauſſen war ihm die Aurora eines künftigen, weiten, herrlichen Lebens und ſeine ganze

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/206>, abgerufen am 23.11.2024.