Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

Bild:
<< vorherige Seite

waltsam unterdrückt, ja, selbst seinen eigensten
Wunsch, eine Liebe aus früherer Zeit aufgegeben
und dafür eine freudenlose Ehe mit einem der vor¬
nehmsten Mädchen gewählt hatte, einzig um das
Steuer des Staates in seine festere und sichere
Hand zu erhalten. -- Eine gleiche Gesinnung schien
alle Glieder dieses Kreises zu verbrüdern. Sie ar¬
beiteten fleissig, hoffend und glaubend, dem alten
Recht in der engen Zeit Luft zu machen, auf Tod
und Leben bereit.

Ganz anders, abgesondert und ohne alle Be¬
rührung mit diesem Kreise lebte Leontin in einem
abgelegenen Quartiere der Residenz mit der Aus¬
sicht auf die beschneyten Berge über die weiten
Vorstädte weg, wo er, mit Fabern zusammenwoh¬
nend, einen wunderlichen Haushalt fuhrte. Alle
die Begeisterungen, Freuden und Schmerzen, die
sich Friedrich'n, dessen Bildung langsam aber siche¬
rer fortschritt, erst jezt neu aufdeckten, hatte er
längst im Innersten empfunden. Ihn jammerte sei¬
ne Zeit vielleicht wie keinen, aber er haßte es, da¬
von zu sprechen. Mit der größten Geisteskraft hat¬
te er schon oft redlich alles versucht, wo es etwas
nützen konnte, aber immer überwiesen, wie die
Menge reich an Wünschen, aber innerlich dumpf
und gleichgültig sey, wo es gilt, und wie seine
Gedanken jederzeit weiter reichten als die Kräfte der
Zeit, warf er sich in einer Art von Verzweiflung
immer wieder auf die Poesie zurück und dichtete oft
Nächtelang ein wunderbares Leben, meist Tragö¬

waltſam unterdrückt, ja, ſelbſt ſeinen eigenſten
Wunſch, eine Liebe aus früherer Zeit aufgegeben
und dafür eine freudenloſe Ehe mit einem der vor¬
nehmſten Mädchen gewählt hatte, einzig um das
Steuer des Staates in ſeine feſtere und ſichere
Hand zu erhalten. — Eine gleiche Geſinnung ſchien
alle Glieder dieſes Kreiſes zu verbrüdern. Sie ar¬
beiteten fleiſſig, hoffend und glaubend, dem alten
Recht in der engen Zeit Luft zu machen, auf Tod
und Leben bereit.

Ganz anders, abgeſondert und ohne alle Be¬
rührung mit dieſem Kreiſe lebte Leontin in einem
abgelegenen Quartiere der Reſidenz mit der Aus¬
ſicht auf die beſchneyten Berge über die weiten
Vorſtädte weg, wo er, mit Fabern zuſammenwoh¬
nend, einen wunderlichen Haushalt fuhrte. Alle
die Begeiſterungen, Freuden und Schmerzen, die
ſich Friedrich'n, deſſen Bildung langſam aber ſiche¬
rer fortſchritt, erſt jezt neu aufdeckten, hatte er
längſt im Innerſten empfunden. Ihn jammerte ſei¬
ne Zeit vielleicht wie keinen, aber er haßte es, da¬
von zu ſprechen. Mit der größten Geiſteskraft hat¬
te er ſchon oft redlich alles verſucht, wo es etwas
nützen konnte, aber immer überwieſen, wie die
Menge reich an Wünſchen, aber innerlich dumpf
und gleichgültig ſey, wo es gilt, und wie ſeine
Gedanken jederzeit weiter reichten als die Kräfte der
Zeit, warf er ſich in einer Art von Verzweiflung
immer wieder auf die Poeſie zurück und dichtete oft
Nächtelang ein wunderbares Leben, meiſt Tragö¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0264" n="258"/>
walt&#x017F;am unterdrückt, ja, &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;einen eigen&#x017F;ten<lb/>
Wun&#x017F;ch, eine Liebe aus früherer Zeit aufgegeben<lb/>
und dafür eine freudenlo&#x017F;e Ehe mit einem der vor¬<lb/>
nehm&#x017F;ten Mädchen gewählt hatte, einzig um das<lb/>
Steuer des Staates in &#x017F;eine fe&#x017F;tere und &#x017F;ichere<lb/>
Hand zu erhalten. &#x2014; Eine gleiche Ge&#x017F;innung &#x017F;chien<lb/>
alle Glieder die&#x017F;es Krei&#x017F;es zu verbrüdern. Sie ar¬<lb/>
beiteten flei&#x017F;&#x017F;ig, hoffend und glaubend, dem alten<lb/>
Recht in der engen Zeit Luft zu machen, auf Tod<lb/>
und Leben bereit.</p><lb/>
          <p>Ganz anders, abge&#x017F;ondert und ohne alle Be¬<lb/>
rührung mit die&#x017F;em Krei&#x017F;e lebte Leontin in einem<lb/>
abgelegenen Quartiere der Re&#x017F;idenz mit der Aus¬<lb/>
&#x017F;icht auf die be&#x017F;chneyten Berge über die weiten<lb/>
Vor&#x017F;tädte weg, wo er, mit Fabern zu&#x017F;ammenwoh¬<lb/>
nend, einen wunderlichen Haushalt fuhrte. Alle<lb/>
die Begei&#x017F;terungen, Freuden und Schmerzen, die<lb/>
&#x017F;ich Friedrich'n, de&#x017F;&#x017F;en Bildung lang&#x017F;am aber &#x017F;iche¬<lb/>
rer fort&#x017F;chritt, er&#x017F;t jezt neu aufdeckten, hatte er<lb/>
läng&#x017F;t im Inner&#x017F;ten empfunden. Ihn jammerte &#x017F;ei¬<lb/>
ne Zeit vielleicht wie keinen, aber er haßte es, da¬<lb/>
von zu &#x017F;prechen. Mit der größten Gei&#x017F;teskraft hat¬<lb/>
te er &#x017F;chon oft redlich alles ver&#x017F;ucht, wo es etwas<lb/>
nützen konnte, aber immer überwie&#x017F;en, wie die<lb/>
Menge reich an Wün&#x017F;chen, aber innerlich dumpf<lb/>
und gleichgültig &#x017F;ey, wo es gilt, und wie &#x017F;eine<lb/>
Gedanken jederzeit weiter reichten als die Kräfte der<lb/>
Zeit, warf er &#x017F;ich in einer Art von Verzweiflung<lb/>
immer wieder auf die Poe&#x017F;ie zurück und dichtete oft<lb/>
Nächtelang ein wunderbares Leben, mei&#x017F;t Tragö¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[258/0264] waltſam unterdrückt, ja, ſelbſt ſeinen eigenſten Wunſch, eine Liebe aus früherer Zeit aufgegeben und dafür eine freudenloſe Ehe mit einem der vor¬ nehmſten Mädchen gewählt hatte, einzig um das Steuer des Staates in ſeine feſtere und ſichere Hand zu erhalten. — Eine gleiche Geſinnung ſchien alle Glieder dieſes Kreiſes zu verbrüdern. Sie ar¬ beiteten fleiſſig, hoffend und glaubend, dem alten Recht in der engen Zeit Luft zu machen, auf Tod und Leben bereit. Ganz anders, abgeſondert und ohne alle Be¬ rührung mit dieſem Kreiſe lebte Leontin in einem abgelegenen Quartiere der Reſidenz mit der Aus¬ ſicht auf die beſchneyten Berge über die weiten Vorſtädte weg, wo er, mit Fabern zuſammenwoh¬ nend, einen wunderlichen Haushalt fuhrte. Alle die Begeiſterungen, Freuden und Schmerzen, die ſich Friedrich'n, deſſen Bildung langſam aber ſiche¬ rer fortſchritt, erſt jezt neu aufdeckten, hatte er längſt im Innerſten empfunden. Ihn jammerte ſei¬ ne Zeit vielleicht wie keinen, aber er haßte es, da¬ von zu ſprechen. Mit der größten Geiſteskraft hat¬ te er ſchon oft redlich alles verſucht, wo es etwas nützen konnte, aber immer überwieſen, wie die Menge reich an Wünſchen, aber innerlich dumpf und gleichgültig ſey, wo es gilt, und wie ſeine Gedanken jederzeit weiter reichten als die Kräfte der Zeit, warf er ſich in einer Art von Verzweiflung immer wieder auf die Poeſie zurück und dichtete oft Nächtelang ein wunderbares Leben, meiſt Tragö¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/264
Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/264>, abgerufen am 23.11.2024.