In dieser Noth verfiel sie darauf, ihr Gewehr zum Signal abzuschießen. Zu ihrer Freude gab sogleich ein Schuß ganz nahe Antwort. Bald darauf hörte sie Fußtritte auf dem lockeren Gerölle, eine hohe, schlanke Gestalt trat plötzlich zwischen den Steinen hervor -- es war Lothario. Das ist ein gefährliches Revier, sagte er, und die Nacht bricht schon herein, doch ich bin hier der Pfade kundig, und meiner Rich¬ tung gewiß. -- Die Gräfin aber hatte bei seinem An¬ blick ein seltsamer Eigensinn ergriffen, gerade ihm dachte sie hier am wenigsten zu begegnen, und eh' er's verhindern konnte, schwang sie, ihn abwehrend, sich auf einen einzelnen, senkrecht über die Tiefe hinausra¬ genden Fels, daß ihm in innerster Seele graus'te -- nur ein Fehltritt und sie glitt in den Abgrund hinun¬ ter. -- Da hatte Lothario mit sicherem Blick seinen Vortheil abgesehen. In raschem Entschluß umfaßte er sie plötzlich und schwang die Sträubende auf seinen Arm. Erschrocken, überrascht, wußte sie nicht, wie ihr geschehe, und sah ihm verwundert und zornig in die Augen. Er aber trug sie grauenhaft an jähen Schlün¬ den vorüber durch die Dämmerung von Klippe zu Klippe hinab, daß sie, vor Entsetzen mit dem einen Arm seinen Nacken umklammernd, ihn rings mit ihren aufgeringelten Locken umgab. So schwiegen sie beide lange Zeit.
In dieſer Noth verfiel ſie darauf, ihr Gewehr zum Signal abzuſchießen. Zu ihrer Freude gab ſogleich ein Schuß ganz nahe Antwort. Bald darauf hoͤrte ſie Fußtritte auf dem lockeren Geroͤlle, eine hohe, ſchlanke Geſtalt trat ploͤtzlich zwiſchen den Steinen hervor — es war Lothario. Das iſt ein gefaͤhrliches Revier, ſagte er, und die Nacht bricht ſchon herein, doch ich bin hier der Pfade kundig, und meiner Rich¬ tung gewiß. — Die Graͤfin aber hatte bei ſeinem An¬ blick ein ſeltſamer Eigenſinn ergriffen, gerade ihm dachte ſie hier am wenigſten zu begegnen, und eh' er's verhindern konnte, ſchwang ſie, ihn abwehrend, ſich auf einen einzelnen, ſenkrecht uͤber die Tiefe hinausra¬ genden Fels, daß ihm in innerſter Seele grauſ'te — nur ein Fehltritt und ſie glitt in den Abgrund hinun¬ ter. — Da hatte Lothario mit ſicherem Blick ſeinen Vortheil abgeſehen. In raſchem Entſchluß umfaßte er ſie ploͤtzlich und ſchwang die Straͤubende auf ſeinen Arm. Erſchrocken, uͤberraſcht, wußte ſie nicht, wie ihr geſchehe, und ſah ihm verwundert und zornig in die Augen. Er aber trug ſie grauenhaft an jaͤhen Schluͤn¬ den voruͤber durch die Daͤmmerung von Klippe zu Klippe hinab, daß ſie, vor Entſetzen mit dem einen Arm ſeinen Nacken umklammernd, ihn rings mit ihren aufgeringelten Locken umgab. So ſchwiegen ſie beide lange Zeit.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0181"n="174"/>
In dieſer Noth verfiel ſie darauf, ihr Gewehr zum<lb/>
Signal abzuſchießen. Zu ihrer Freude gab ſogleich<lb/>
ein Schuß ganz nahe Antwort. Bald darauf hoͤrte<lb/>ſie Fußtritte auf dem lockeren Geroͤlle, eine hohe,<lb/>ſchlanke Geſtalt trat ploͤtzlich zwiſchen den Steinen<lb/>
hervor — es war Lothario. Das iſt ein gefaͤhrliches<lb/>
Revier, ſagte er, und die Nacht bricht ſchon herein,<lb/>
doch ich bin hier der Pfade kundig, und meiner Rich¬<lb/>
tung gewiß. — Die Graͤfin aber hatte bei ſeinem An¬<lb/>
blick ein ſeltſamer Eigenſinn ergriffen, gerade ihm<lb/>
dachte ſie hier am wenigſten zu begegnen, und eh' er's<lb/>
verhindern konnte, ſchwang ſie, ihn abwehrend, ſich<lb/>
auf einen einzelnen, ſenkrecht uͤber die Tiefe hinausra¬<lb/>
genden Fels, daß ihm in innerſter Seele grauſ'te —<lb/>
nur ein Fehltritt und ſie glitt in den Abgrund hinun¬<lb/>
ter. — Da hatte Lothario mit ſicherem Blick ſeinen<lb/>
Vortheil abgeſehen. In raſchem Entſchluß umfaßte<lb/>
er ſie ploͤtzlich und ſchwang die Straͤubende auf ſeinen<lb/>
Arm. Erſchrocken, uͤberraſcht, wußte ſie nicht, wie<lb/>
ihr geſchehe, und ſah ihm verwundert und zornig in die<lb/>
Augen. Er aber trug ſie grauenhaft an jaͤhen Schluͤn¬<lb/>
den voruͤber durch die Daͤmmerung von Klippe zu<lb/>
Klippe hinab, daß ſie, vor Entſetzen mit dem einen<lb/>
Arm ſeinen Nacken umklammernd, ihn rings mit ihren<lb/>
aufgeringelten Locken umgab. So ſchwiegen ſie beide<lb/>
lange Zeit.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[174/0181]
In dieſer Noth verfiel ſie darauf, ihr Gewehr zum
Signal abzuſchießen. Zu ihrer Freude gab ſogleich
ein Schuß ganz nahe Antwort. Bald darauf hoͤrte
ſie Fußtritte auf dem lockeren Geroͤlle, eine hohe,
ſchlanke Geſtalt trat ploͤtzlich zwiſchen den Steinen
hervor — es war Lothario. Das iſt ein gefaͤhrliches
Revier, ſagte er, und die Nacht bricht ſchon herein,
doch ich bin hier der Pfade kundig, und meiner Rich¬
tung gewiß. — Die Graͤfin aber hatte bei ſeinem An¬
blick ein ſeltſamer Eigenſinn ergriffen, gerade ihm
dachte ſie hier am wenigſten zu begegnen, und eh' er's
verhindern konnte, ſchwang ſie, ihn abwehrend, ſich
auf einen einzelnen, ſenkrecht uͤber die Tiefe hinausra¬
genden Fels, daß ihm in innerſter Seele grauſ'te —
nur ein Fehltritt und ſie glitt in den Abgrund hinun¬
ter. — Da hatte Lothario mit ſicherem Blick ſeinen
Vortheil abgeſehen. In raſchem Entſchluß umfaßte
er ſie ploͤtzlich und ſchwang die Straͤubende auf ſeinen
Arm. Erſchrocken, uͤberraſcht, wußte ſie nicht, wie
ihr geſchehe, und ſah ihm verwundert und zornig in die
Augen. Er aber trug ſie grauenhaft an jaͤhen Schluͤn¬
den voruͤber durch die Daͤmmerung von Klippe zu
Klippe hinab, daß ſie, vor Entſetzen mit dem einen
Arm ſeinen Nacken umklammernd, ihn rings mit ihren
aufgeringelten Locken umgab. So ſchwiegen ſie beide
lange Zeit.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/181>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.