sen Gedanken erblickte sie auf einmal eine Gemse über sich, die sich hoch über den Wipfeln von Klippe zu Klippe schwang. Das war ihr ganz neu, sie konnte der gefährlichen Lust nicht widerstehen. Ein alter Jä¬ ger, der sich bis in diese Oede verstiegen hatte, arbei¬ tete sich eben durch das Gesträuch, sie übergab ihm ihr Pferd, er sollte es hüten, bis sie wiederkäme, und eh' er sie noch warnen konnte, war sie schon zwischen den Felsen verschwunden.
Nun kletterte sie wie ein schlanker Panther über die Klippen, das scheue Wild verlockte sie immer höher hinauf, die Lust wuchs mit der Gefahr, sie hatte sich lange nicht so wohl gefühlt, und erstaunte, da sie plötz¬ lich eine Felsenwand über sich, wie in Feuer, erblickte, es war der Widerschein der Abendsonne, die so eben jenseits hinter den schwarzen Wäldern versank. Mit der einen Hand sich an einen Strauch haltend, sah sie über den Felsenrand hinab: die Thäler unten dunkelten schon, aus weiter Ferne hörte sie noch eine Abendglocke heraufschallen, sie meinte, es komme von dem Kloster herüber. Eilig schlug sie nun die Richtung ein, aber sie konnte sich in dem wilden Gewirre nicht zurechtfin¬ den, wohin sie sich wandte, thaten sich neue Abgründe auf; so stand sie in der entsetzlichen Einsamkeit wie einer, der Nachts zwischen den Zacken und Steinbil¬ dern eines unbekannten Münsters vergessen worden.
ſen Gedanken erblickte ſie auf einmal eine Gemſe uͤber ſich, die ſich hoch uͤber den Wipfeln von Klippe zu Klippe ſchwang. Das war ihr ganz neu, ſie konnte der gefaͤhrlichen Luſt nicht widerſtehen. Ein alter Jaͤ¬ ger, der ſich bis in dieſe Oede verſtiegen hatte, arbei¬ tete ſich eben durch das Geſtraͤuch, ſie uͤbergab ihm ihr Pferd, er ſollte es huͤten, bis ſie wiederkaͤme, und eh' er ſie noch warnen konnte, war ſie ſchon zwiſchen den Felſen verſchwunden.
Nun kletterte ſie wie ein ſchlanker Panther uͤber die Klippen, das ſcheue Wild verlockte ſie immer hoͤher hinauf, die Luſt wuchs mit der Gefahr, ſie hatte ſich lange nicht ſo wohl gefuͤhlt, und erſtaunte, da ſie ploͤtz¬ lich eine Felſenwand uͤber ſich, wie in Feuer, erblickte, es war der Widerſchein der Abendſonne, die ſo eben jenſeits hinter den ſchwarzen Waͤldern verſank. Mit der einen Hand ſich an einen Strauch haltend, ſah ſie uͤber den Felſenrand hinab: die Thaͤler unten dunkelten ſchon, aus weiter Ferne hoͤrte ſie noch eine Abendglocke heraufſchallen, ſie meinte, es komme von dem Kloſter heruͤber. Eilig ſchlug ſie nun die Richtung ein, aber ſie konnte ſich in dem wilden Gewirre nicht zurechtfin¬ den, wohin ſie ſich wandte, thaten ſich neue Abgruͤnde auf; ſo ſtand ſie in der entſetzlichen Einſamkeit wie einer, der Nachts zwiſchen den Zacken und Steinbil¬ dern eines unbekannten Muͤnſters vergeſſen worden.
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ſen Gedanken erblickte ſie auf einmal eine Gemſe uͤber
ſich, die ſich hoch uͤber den Wipfeln von Klippe zu
Klippe ſchwang. Das war ihr ganz neu, ſie konnte
der gefaͤhrlichen Luſt nicht widerſtehen. Ein alter Jaͤ¬
ger, der ſich bis in dieſe Oede verſtiegen hatte, arbei¬
tete ſich eben durch das Geſtraͤuch, ſie uͤbergab ihm
ihr Pferd, er ſollte es huͤten, bis ſie wiederkaͤme, und
eh' er ſie noch warnen konnte, war ſie ſchon zwiſchen
den Felſen verſchwunden.
Nun kletterte ſie wie ein ſchlanker Panther uͤber
die Klippen, das ſcheue Wild verlockte ſie immer hoͤher
hinauf, die Luſt wuchs mit der Gefahr, ſie hatte ſich
lange nicht ſo wohl gefuͤhlt, und erſtaunte, da ſie ploͤtz¬
lich eine Felſenwand uͤber ſich, wie in Feuer, erblickte,
es war der Widerſchein der Abendſonne, die ſo eben
jenſeits hinter den ſchwarzen Waͤldern verſank. Mit
der einen Hand ſich an einen Strauch haltend, ſah ſie
uͤber den Felſenrand hinab: die Thaͤler unten dunkelten
ſchon, aus weiter Ferne hoͤrte ſie noch eine Abendglocke
heraufſchallen, ſie meinte, es komme von dem Kloſter
heruͤber. Eilig ſchlug ſie nun die Richtung ein, aber
ſie konnte ſich in dem wilden Gewirre nicht zurechtfin¬
den, wohin ſie ſich wandte, thaten ſich neue Abgruͤnde
auf; ſo ſtand ſie in der entſetzlichen Einſamkeit wie
einer, der Nachts zwiſchen den Zacken und Steinbil¬
dern eines unbekannten Muͤnſters vergeſſen worden.
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Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/180>, abgerufen am 21.11.2024.
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