Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eichendorff, Joseph von: Gedichte. Berlin, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite
An die Entfernte.
I.
Denk ich, Du Stille, an Dein ruhig Walten,
An jenes letzten Abends rothe Kühle,
Wo ich die theure Hand noch durfte halten:
Steh' ich oft sinnend stille im Gewühle,
Und, wie den Schweizer heim'sche Alphornslieder
Auf fremden Bergen, fern den Freunden allen,
Oft unverhofft befallen,
Kommt tiefe Sehnsucht plötzlich auf mich nieder.
Ich hab' es oft in Deiner Brust gelesen:
Nie hast Du recht mich in mir selbst gefunden,
Fremd blieb, zu keck und treibend Dir mein Wesen,
Und so bin ich im Strome Dir verschwunden.
O nenn' drum nicht die schöne Jugend wilde,
Die mit dem Leben und mit seinen Schmerzen
Mag unbekümmert scherzen,
Weil sie die Brust reich fühlt und ernst und milde!
Getrennt ist längst schon uns'res Lebens Reise,
Es trieb mein Herz durch licht' und dunkle Stunden.
Dem festern Blick erweitern sich die Kreise,
In Duft ist jenes erste Reich verschwunden --
Doch, wie die Pfade einsam sich verwildern,
Was ich seitdem von Lust und Leid bezwungen,
Geliebt, geirrt, gesungen:
Ich knie' vor Dir in all' den tausend Bildern.
An die Entfernte.
I.
Denk ich, Du Stille, an Dein ruhig Walten,
An jenes letzten Abends rothe Kuͤhle,
Wo ich die theure Hand noch durfte halten:
Steh' ich oft ſinnend ſtille im Gewuͤhle,
Und, wie den Schweizer heim'ſche Alphornslieder
Auf fremden Bergen, fern den Freunden allen,
Oft unverhofft befallen,
Kommt tiefe Sehnſucht ploͤtzlich auf mich nieder.
Ich hab' es oft in Deiner Bruſt geleſen:
Nie haſt Du recht mich in mir ſelbſt gefunden,
Fremd blieb, zu keck und treibend Dir mein Weſen,
Und ſo bin ich im Strome Dir verſchwunden.
O nenn' drum nicht die ſchoͤne Jugend wilde,
Die mit dem Leben und mit ſeinen Schmerzen
Mag unbekuͤmmert ſcherzen,
Weil ſie die Bruſt reich fuͤhlt und ernſt und milde!
Getrennt iſt laͤngſt ſchon unſ'res Lebens Reiſe,
Es trieb mein Herz durch licht' und dunkle Stunden.
Dem feſtern Blick erweitern ſich die Kreiſe,
In Duft iſt jenes erſte Reich verſchwunden —
Doch, wie die Pfade einſam ſich verwildern,
Was ich ſeitdem von Luſt und Leid bezwungen,
Geliebt, geirrt, geſungen:
Ich knie' vor Dir in all' den tauſend Bildern.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0316" n="298"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b #g">An die Entfernte</hi> <hi rendition="#b">.</hi><lb/>
          </head>
          <lg>
            <head><hi rendition="#aq">I</hi>.<lb/></head>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">D</hi>enk ich, Du Stille, an Dein ruhig Walten,</l><lb/>
              <l>An jenes letzten Abends rothe Ku&#x0364;hle,</l><lb/>
              <l>Wo ich die theure Hand noch durfte halten:</l><lb/>
              <l>Steh' ich oft &#x017F;innend &#x017F;tille im Gewu&#x0364;hle,</l><lb/>
              <l>Und, wie den Schweizer heim'&#x017F;che Alphornslieder</l><lb/>
              <l>Auf fremden Bergen, fern den Freunden allen,</l><lb/>
              <l>Oft unverhofft befallen,</l><lb/>
              <l>Kommt tiefe Sehn&#x017F;ucht plo&#x0364;tzlich auf mich nieder.</l><lb/>
            </lg>
            <lg type="poem">
              <l>Ich hab' es oft in Deiner Bru&#x017F;t gele&#x017F;en:</l><lb/>
              <l>Nie ha&#x017F;t Du recht mich in mir &#x017F;elb&#x017F;t gefunden,</l><lb/>
              <l>Fremd blieb, zu keck und treibend Dir mein We&#x017F;en,</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;o bin ich im Strome Dir ver&#x017F;chwunden.</l><lb/>
              <l>O nenn' drum nicht die &#x017F;cho&#x0364;ne Jugend wilde,</l><lb/>
              <l>Die mit dem Leben und mit &#x017F;einen Schmerzen</l><lb/>
              <l>Mag unbeku&#x0364;mmert &#x017F;cherzen,</l><lb/>
              <l>Weil &#x017F;ie die Bru&#x017F;t reich fu&#x0364;hlt und ern&#x017F;t und milde!</l><lb/>
            </lg>
            <lg type="poem">
              <l>Getrennt i&#x017F;t la&#x0364;ng&#x017F;t &#x017F;chon un&#x017F;'res Lebens Rei&#x017F;e,</l><lb/>
              <l>Es trieb mein Herz durch licht' und dunkle Stunden.</l><lb/>
              <l>Dem fe&#x017F;tern Blick erweitern &#x017F;ich die Krei&#x017F;e,</l><lb/>
              <l>In Duft i&#x017F;t jenes er&#x017F;te Reich ver&#x017F;chwunden &#x2014;</l><lb/>
              <l>Doch, wie die Pfade ein&#x017F;am &#x017F;ich verwildern,</l><lb/>
              <l>Was ich &#x017F;eitdem von Lu&#x017F;t und Leid bezwungen,</l><lb/>
              <l>Geliebt, geirrt, ge&#x017F;ungen:</l><lb/>
              <l>Ich knie' vor Dir in all' den tau&#x017F;end Bildern.</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[298/0316] An die Entfernte. I. Denk ich, Du Stille, an Dein ruhig Walten, An jenes letzten Abends rothe Kuͤhle, Wo ich die theure Hand noch durfte halten: Steh' ich oft ſinnend ſtille im Gewuͤhle, Und, wie den Schweizer heim'ſche Alphornslieder Auf fremden Bergen, fern den Freunden allen, Oft unverhofft befallen, Kommt tiefe Sehnſucht ploͤtzlich auf mich nieder. Ich hab' es oft in Deiner Bruſt geleſen: Nie haſt Du recht mich in mir ſelbſt gefunden, Fremd blieb, zu keck und treibend Dir mein Weſen, Und ſo bin ich im Strome Dir verſchwunden. O nenn' drum nicht die ſchoͤne Jugend wilde, Die mit dem Leben und mit ſeinen Schmerzen Mag unbekuͤmmert ſcherzen, Weil ſie die Bruſt reich fuͤhlt und ernſt und milde! Getrennt iſt laͤngſt ſchon unſ'res Lebens Reiſe, Es trieb mein Herz durch licht' und dunkle Stunden. Dem feſtern Blick erweitern ſich die Kreiſe, In Duft iſt jenes erſte Reich verſchwunden — Doch, wie die Pfade einſam ſich verwildern, Was ich ſeitdem von Luſt und Leid bezwungen, Geliebt, geirrt, geſungen: Ich knie' vor Dir in all' den tauſend Bildern.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_gedichte_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_gedichte_1837/316
Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Gedichte. Berlin, 1837, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_gedichte_1837/316>, abgerufen am 21.11.2024.