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Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild. Berlin, 1826.

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Ein Kindlein in den Armen
Die Wunderbare hält,
Und himmlisches Erbarmen
Durchdringt die ganze Welt.
Da in den lichten Räumen
Erwacht das Menschenkind,
Und schüttelt böses Träumen
Von seinem Haupt geschwind.
Und, wie die Lerche singend,
Aus schwülen Zaubers Kluft
Erhebt die Seele ringend
Sich in die Morgenluft.

Alle waren still geworden über dem Liede. -- "Jene
Ruine," sagte endlich Pietro, "wäre also ein ehemali¬
ger Tempel der Venus, wenn ich Euch sonst recht ver¬
standen?" "Allerdings," erwiederte Fortunato, "so viel
man an der Anordnung des Ganzen und den noch
übrig gebliebenen Verzierungen abnehmen kann. Auch
sagt man, der Geist der schönen Heidengöttin habe
keine Ruhe gefunden. Aus der erschrecklichen Stille
des Grabes heißt sie das Andenken an die irdische Lust
jeden Frühling immer wieder in die grüne Einsamkeit
ihres verfallenen Hauses heraufsteigen und durch teufe¬
lisches Blendwerk die alte Verführung üben an jungen
sorglosen Gemüthern, die dann vom Leben abgeschie¬
den, und doch auch noch nicht aufgenommen in den
Frieden der Todten, zwischen wilder Lust und schreck¬
licher Reue, an Leib und Seele verloren, umherirren,
und in der entsetzlichsten Täuschung sich selber verzeh¬

Ein Kindlein in den Armen
Die Wunderbare hält,
Und himmliſches Erbarmen
Durchdringt die ganze Welt.
Da in den lichten Räumen
Erwacht das Menſchenkind,
Und ſchüttelt böſes Träumen
Von ſeinem Haupt geſchwind.
Und, wie die Lerche ſingend,
Aus ſchwülen Zaubers Kluft
Erhebt die Seele ringend
Sich in die Morgenluft.

Alle waren ſtill geworden uͤber dem Liede. — „Jene
Ruine,“ ſagte endlich Pietro, „waͤre alſo ein ehemali¬
ger Tempel der Venus, wenn ich Euch ſonſt recht ver¬
ſtanden?“ „Allerdings,“ erwiederte Fortunato, „ſo viel
man an der Anordnung des Ganzen und den noch
uͤbrig gebliebenen Verzierungen abnehmen kann. Auch
ſagt man, der Geiſt der ſchoͤnen Heidengoͤttin habe
keine Ruhe gefunden. Aus der erſchrecklichen Stille
des Grabes heißt ſie das Andenken an die irdiſche Luſt
jeden Fruͤhling immer wieder in die gruͤne Einſamkeit
ihres verfallenen Hauſes heraufſteigen und durch teufe¬
liſches Blendwerk die alte Verfuͤhrung uͤben an jungen
ſorgloſen Gemuͤthern, die dann vom Leben abgeſchie¬
den, und doch auch noch nicht aufgenommen in den
Frieden der Todten, zwiſchen wilder Luſt und ſchreck¬
licher Reue, an Leib und Seele verloren, umherirren,
und in der entſetzlichſten Taͤuſchung ſich ſelber verzeh¬

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[194/0204] Ein Kindlein in den Armen Die Wunderbare hält, Und himmliſches Erbarmen Durchdringt die ganze Welt. Da in den lichten Räumen Erwacht das Menſchenkind, Und ſchüttelt böſes Träumen Von ſeinem Haupt geſchwind. Und, wie die Lerche ſingend, Aus ſchwülen Zaubers Kluft Erhebt die Seele ringend Sich in die Morgenluft. Alle waren ſtill geworden uͤber dem Liede. — „Jene Ruine,“ ſagte endlich Pietro, „waͤre alſo ein ehemali¬ ger Tempel der Venus, wenn ich Euch ſonſt recht ver¬ ſtanden?“ „Allerdings,“ erwiederte Fortunato, „ſo viel man an der Anordnung des Ganzen und den noch uͤbrig gebliebenen Verzierungen abnehmen kann. Auch ſagt man, der Geiſt der ſchoͤnen Heidengoͤttin habe keine Ruhe gefunden. Aus der erſchrecklichen Stille des Grabes heißt ſie das Andenken an die irdiſche Luſt jeden Fruͤhling immer wieder in die gruͤne Einſamkeit ihres verfallenen Hauſes heraufſteigen und durch teufe¬ liſches Blendwerk die alte Verfuͤhrung uͤben an jungen ſorgloſen Gemuͤthern, die dann vom Leben abgeſchie¬ den, und doch auch noch nicht aufgenommen in den Frieden der Todten, zwiſchen wilder Luſt und ſchreck¬ licher Reue, an Leib und Seele verloren, umherirren, und in der entſetzlichſten Taͤuſchung ſich ſelber verzeh¬

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild. Berlin, 1826, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_taugenichts_1826/204>, abgerufen am 09.11.2024.