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Fabricius, Johann Andreas: Philosophische Oratorie. Leipzig, 1724.

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des stili insonderheit.
den 8. julii 1679.
aufgerichtet
von
J. B.
Wer hier vorüber gehet, gehe zuvor in sich.
Er verlasse dis grab, mit verlassung der menschlichkeit.
Er lerne von einer verstorbenen/
was keine lebende lehren können:
die vergängligkeit des lebens,
in dem tode der vergänglichen.
denn die leichen sind hierin viel treuere lehr-meister
als alle welt-weisen.
die vergängligkeit nennen wir zwar,
aber wir kennen nicht ihre behändigkeit.
wir hassen sie in dem gegenwärtigen,
und lassen sie doch in dem zukünftigen nicht.
denn wir glauben ohne furcht,
und fürchten ohne glauben:
daß dieses schoß-kind der menschen seine eigene
mutter tödte.
das leben so wir lieben, üben wir nicht recht.
ist es ein traum?
so ist der schlaf die zeit,
und wir träumen weil wir schlafen:
ist es eine fabel?
so betrügen wir uns auch.
der nebel,
den es mit verkehrten buchstaben ausdrückt,
blendet das gesichte,
so lange wir zusehen.
aber die sterbenden öfnen uns die augen,
wenn wir sie ihnen zudrucken.
was das leben sey,
erkennen wir aus den todten, grüften.
suchtest du wohl Pilgram,
unter diesem leblosen marmor,
das muster weiblichen geschlechts,
einen adler von adlern gezeuget,

die

des ſtili inſonderheit.
den 8. julii 1679.
aufgerichtet
von
J. B.
Wer hier voruͤber gehet, gehe zuvor in ſich.
Er verlaſſe dis grab, mit verlaſſung der menſchlichkeit.
Er lerne von einer verſtorbenen/
was keine lebende lehren koͤnnen:
die vergaͤngligkeit des lebens,
in dem tode der vergaͤnglichen.
denn die leichen ſind hierin viel treuere lehr-meiſter
als alle welt-weiſen.
die vergaͤngligkeit nennen wir zwar,
aber wir kennen nicht ihre behaͤndigkeit.
wir haſſen ſie in dem gegenwaͤrtigen,
und laſſen ſie doch in dem zukuͤnftigen nicht.
denn wir glauben ohne furcht,
und fuͤrchten ohne glauben:
daß dieſes ſchoß-kind der menſchen ſeine eigene
mutter toͤdte.
das leben ſo wir lieben, uͤben wir nicht recht.
iſt es ein traum?
ſo iſt der ſchlaf die zeit,
und wir traͤumen weil wir ſchlafen:
iſt es eine fabel?
ſo betruͤgen wir uns auch.
der nebel,
den es mit verkehrten buchſtaben ausdruͤckt,
blendet das geſichte,
ſo lange wir zuſehen.
aber die ſterbenden oͤfnen uns die augen,
wenn wir ſie ihnen zudrucken.
was das leben ſey,
erkennen wir aus den todten, gruͤften.
ſuchteſt du wohl Pilgram,
unter dieſem lebloſen marmor,
das muſter weiblichen geſchlechts,
einen adler von adlern gezeuget,

die
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[319/0337] des ſtili inſonderheit. den 8. julii 1679. aufgerichtet von J. B. Wer hier voruͤber gehet, gehe zuvor in ſich. Er verlaſſe dis grab, mit verlaſſung der menſchlichkeit. Er lerne von einer verſtorbenen/ was keine lebende lehren koͤnnen: die vergaͤngligkeit des lebens, in dem tode der vergaͤnglichen. denn die leichen ſind hierin viel treuere lehr-meiſter als alle welt-weiſen. die vergaͤngligkeit nennen wir zwar, aber wir kennen nicht ihre behaͤndigkeit. wir haſſen ſie in dem gegenwaͤrtigen, und laſſen ſie doch in dem zukuͤnftigen nicht. denn wir glauben ohne furcht, und fuͤrchten ohne glauben: daß dieſes ſchoß-kind der menſchen ſeine eigene mutter toͤdte. das leben ſo wir lieben, uͤben wir nicht recht. iſt es ein traum? ſo iſt der ſchlaf die zeit, und wir traͤumen weil wir ſchlafen: iſt es eine fabel? ſo betruͤgen wir uns auch. der nebel, den es mit verkehrten buchſtaben ausdruͤckt, blendet das geſichte, ſo lange wir zuſehen. aber die ſterbenden oͤfnen uns die augen, wenn wir ſie ihnen zudrucken. was das leben ſey, erkennen wir aus den todten, gruͤften. ſuchteſt du wohl Pilgram, unter dieſem lebloſen marmor, das muſter weiblichen geſchlechts, einen adler von adlern gezeuget, die

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Zitationshilfe: Fabricius, Johann Andreas: Philosophische Oratorie. Leipzig, 1724, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fabricius_oratorie_1724/337>, abgerufen am 22.11.2024.