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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht.
zu erkennen gab, umsomehr als die nun zur Herrschaft gekommene
Frauenwelt ohnehin auf diesem Gebiet zu allen Zeiten und bei
allen Völkern die größere und bedeutendere Rolle gespielt hat. Die
Frauen treten daher auch in unsrer Darstellung dieser Periode
durchaus in den Vordergrund. Wie sich in der Gesellschaft ein
neues, blühendes und farbenglänzendes Leben dem Frühling gleich
entwickelt, wie der Schmuck sich aus dem Rohen, Schweren und
Ueberladenen zum geläuterten Kunstsinn herausarbeitet, wie die
Gefühle und Empfindungen, die Sprache und die Weise des Um-
gangs sich verfeinern und in zierliche Formen kleiden: so ändert
sich auch in demselben Sinne die äußere Erscheinung des einzel-
nen Menschen; aus dem Reizlosen und fast Barbarischen, wie wir
sie im elften Jahrhundert verlassen haben, gelangt sie zur Grazie,
zu gefälliger Eleganz, ja entwickelt sich zu plastischer Schönheit.

Zunächst hat sich, wovon wir nur Andeutungen im Zeitalter
Karls des Großen fanden, eine bis ins Kleinste gehende Schön-
heitslehre
in der höfischen Dichtung herausgebildet, welcher
die Kunst nach Kräften zu entsprechen sucht. Das Nibelungenlied,
welches, auf älterer Grundlage ruhend, von einzelnen Stellen
des späteren Bearbeiters abgesehen, im Ganzen uns einen Cul-
turzustand vorführt, den wir spätestens als den Uebergang zur
Periode der Minne und des höfischen Ritterwesens bezeichnen dür-
fen, begnügt sich mit allgemeinen Vergleichen und der Angabe
des Eindrucks, den die Schönheit auf den Schauenden ausübt.
Gelegentlich spricht es auch wohl von Brunhildens weißen Armen,
und von der rosenrothen Farbe und den weißen Händen der
Chriemhilde. Die Hauptschilderung lautet aber anders. So geht
Chriemhilde einher wie das Morgenroth, das aus trüben Wolken
bricht; ihr Anblick scheidet manchen, der sie im Herzen trägt und
sie nun in Herrlichkeit stehen sieht, von seiner Noth. Oder sie
wird mit dem Mond verglichen, und wie dieser in lichter Klarheit
vor den Sternen steht und mit lauterem Schein durch die Wolken
bricht, so steht sie vor den andern Frauen und erhöhet den Muth
manches Helden. -- Zu Schiedsrichtern im Reich des Schönen
macht das Nibelungenlied die Kenner der Frauen und die Weisen,

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1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht.
zu erkennen gab, umſomehr als die nun zur Herrſchaft gekommene
Frauenwelt ohnehin auf dieſem Gebiet zu allen Zeiten und bei
allen Völkern die größere und bedeutendere Rolle geſpielt hat. Die
Frauen treten daher auch in unſrer Darſtellung dieſer Periode
durchaus in den Vordergrund. Wie ſich in der Geſellſchaft ein
neues, blühendes und farbenglänzendes Leben dem Frühling gleich
entwickelt, wie der Schmuck ſich aus dem Rohen, Schweren und
Ueberladenen zum geläuterten Kunſtſinn herausarbeitet, wie die
Gefühle und Empfindungen, die Sprache und die Weiſe des Um-
gangs ſich verfeinern und in zierliche Formen kleiden: ſo ändert
ſich auch in demſelben Sinne die äußere Erſcheinung des einzel-
nen Menſchen; aus dem Reizloſen und faſt Barbariſchen, wie wir
ſie im elften Jahrhundert verlaſſen haben, gelangt ſie zur Grazie,
zu gefälliger Eleganz, ja entwickelt ſich zu plaſtiſcher Schönheit.

Zunächſt hat ſich, wovon wir nur Andeutungen im Zeitalter
Karls des Großen fanden, eine bis ins Kleinſte gehende Schön-
heitslehre
in der höfiſchen Dichtung herausgebildet, welcher
die Kunſt nach Kräften zu entſprechen ſucht. Das Nibelungenlied,
welches, auf älterer Grundlage ruhend, von einzelnen Stellen
des ſpäteren Bearbeiters abgeſehen, im Ganzen uns einen Cul-
turzuſtand vorführt, den wir ſpäteſtens als den Uebergang zur
Periode der Minne und des höfiſchen Ritterweſens bezeichnen dür-
fen, begnügt ſich mit allgemeinen Vergleichen und der Angabe
des Eindrucks, den die Schönheit auf den Schauenden ausübt.
Gelegentlich ſpricht es auch wohl von Brunhildens weißen Armen,
und von der roſenrothen Farbe und den weißen Händen der
Chriemhilde. Die Hauptſchilderung lautet aber anders. So geht
Chriemhilde einher wie das Morgenroth, das aus trüben Wolken
bricht; ihr Anblick ſcheidet manchen, der ſie im Herzen trägt und
ſie nun in Herrlichkeit ſtehen ſieht, von ſeiner Noth. Oder ſie
wird mit dem Mond verglichen, und wie dieſer in lichter Klarheit
vor den Sternen ſteht und mit lauterem Schein durch die Wolken
bricht, ſo ſteht ſie vor den andern Frauen und erhöhet den Muth
manches Helden. — Zu Schiedsrichtern im Reich des Schönen
macht das Nibelungenlied die Kenner der Frauen und die Weiſen,

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[83/0101] 1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht. zu erkennen gab, umſomehr als die nun zur Herrſchaft gekommene Frauenwelt ohnehin auf dieſem Gebiet zu allen Zeiten und bei allen Völkern die größere und bedeutendere Rolle geſpielt hat. Die Frauen treten daher auch in unſrer Darſtellung dieſer Periode durchaus in den Vordergrund. Wie ſich in der Geſellſchaft ein neues, blühendes und farbenglänzendes Leben dem Frühling gleich entwickelt, wie der Schmuck ſich aus dem Rohen, Schweren und Ueberladenen zum geläuterten Kunſtſinn herausarbeitet, wie die Gefühle und Empfindungen, die Sprache und die Weiſe des Um- gangs ſich verfeinern und in zierliche Formen kleiden: ſo ändert ſich auch in demſelben Sinne die äußere Erſcheinung des einzel- nen Menſchen; aus dem Reizloſen und faſt Barbariſchen, wie wir ſie im elften Jahrhundert verlaſſen haben, gelangt ſie zur Grazie, zu gefälliger Eleganz, ja entwickelt ſich zu plaſtiſcher Schönheit. Zunächſt hat ſich, wovon wir nur Andeutungen im Zeitalter Karls des Großen fanden, eine bis ins Kleinſte gehende Schön- heitslehre in der höfiſchen Dichtung herausgebildet, welcher die Kunſt nach Kräften zu entſprechen ſucht. Das Nibelungenlied, welches, auf älterer Grundlage ruhend, von einzelnen Stellen des ſpäteren Bearbeiters abgeſehen, im Ganzen uns einen Cul- turzuſtand vorführt, den wir ſpäteſtens als den Uebergang zur Periode der Minne und des höfiſchen Ritterweſens bezeichnen dür- fen, begnügt ſich mit allgemeinen Vergleichen und der Angabe des Eindrucks, den die Schönheit auf den Schauenden ausübt. Gelegentlich ſpricht es auch wohl von Brunhildens weißen Armen, und von der roſenrothen Farbe und den weißen Händen der Chriemhilde. Die Hauptſchilderung lautet aber anders. So geht Chriemhilde einher wie das Morgenroth, das aus trüben Wolken bricht; ihr Anblick ſcheidet manchen, der ſie im Herzen trägt und ſie nun in Herrlichkeit ſtehen ſieht, von ſeiner Noth. Oder ſie wird mit dem Mond verglichen, und wie dieſer in lichter Klarheit vor den Sternen ſteht und mit lauterem Schein durch die Wolken bricht, ſo ſteht ſie vor den andern Frauen und erhöhet den Muth manches Helden. — Zu Schiedsrichtern im Reich des Schönen macht das Nibelungenlied die Kenner der Frauen und die Weiſen, 6*

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten01_1858/101>, abgerufen am 24.11.2024.