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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht.
barbarischen Schnurrbart noch eine Zeitlang bewahrt. Schon bei
Heinrich II., dem Freund der Kirche, haben wir den gekürzten
Vollbart unter die Rangeszeichen aufnehmen sehen. Er war ur-
sprünglich das Vorrecht oder Abzeichen der Geistlichkeit, aber in
der römischen Kirche seit Papst Leo II. (816) abgelegt worden.
Nun folgte im neuen Jahrtausend auch die höhere Geistlichkeit
wieder dem weltlichen Herrn, während die ganze übrige Welt,
etwa die Würde des Alters ausgenommen, Laien und Priester,
Ritter und Bürger und Bauer, das Gesicht glattgeschoren trugen.
Alle Kreuzfahrer, die Helden Gottfried von Bouillon, Raimund
von Toulouse, Boemund und der schöne Tankred und ihre Ge-
nossen und Nachfolger, sie zogen alle völlig bartlos in den heiligen
Krieg; auf gleichzeitigen Bildern blickt aus der eng umschließen-
den Kaputze des Panzerhemdes immer ein glattes Gesicht uns
entgegen. So ist's auch fast hundert Jahre später auf den Bildern
der Herrad. Nur diejenigen, die wir bezeichnet haben, also die
höchsten Häupter der Christenheit, tragen den verkürzten Vollbart.
Ihnen gesellt sich aber seltsamer Weise noch eine sonderbare Ge-
nossenschaft zu: es sind die verachteten Juden und solche Leute,
deren Lebensweise verhinderte, daß sie ihrem Gesicht irgend eine
Sorgfalt zuwenden konnten, wie die Räuber und Mörder von
Profession. Auch die Wallfahrer, die ihrem Körper nur die noth-
wendigste Pflege angedeihen lassen durften und in linnenen Ge-
wändern und mit bloßen Füßen gingen, ließen Bart und Haar
wachsen. Ein Schnurrbart allein kommt nicht vor und ist dem
Geschmack dieser Zeit eine Unmöglichkeit. Friedrich I. trägt seinen
rothen Bart in gekürzter Fülle ringsherum, wie uns das Stand-
bild von St. Zeno lehrt. Grade so trug ihn hundert Jahre früher
Rudolf von Schwaben, der Gegenkönig, nach der gleichzeitigen
Grabplatte zu schließen. Wieder hundert Jahre später zeigen die
Bilder der Liederhandschriften dieselbe Sitte: das glatte Gesicht
ist die allgemeine Regel; nur bei einzelnen, wie es scheint, älteren
Sängern umzieht ein leichter Bart Wangen und Kinn; die Königs-
bilder von Heinrich VI. und Wenzel von Böhmen haben dazu
noch einen leisen Schnurrbart aufzuweisen. Auch dieser verschwin-

1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht.
barbariſchen Schnurrbart noch eine Zeitlang bewahrt. Schon bei
Heinrich II., dem Freund der Kirche, haben wir den gekürzten
Vollbart unter die Rangeszeichen aufnehmen ſehen. Er war ur-
ſprünglich das Vorrecht oder Abzeichen der Geiſtlichkeit, aber in
der römiſchen Kirche ſeit Papſt Leo II. (816) abgelegt worden.
Nun folgte im neuen Jahrtauſend auch die höhere Geiſtlichkeit
wieder dem weltlichen Herrn, während die ganze übrige Welt,
etwa die Würde des Alters ausgenommen, Laien und Prieſter,
Ritter und Bürger und Bauer, das Geſicht glattgeſchoren trugen.
Alle Kreuzfahrer, die Helden Gottfried von Bouillon, Raimund
von Toulouſe, Boemund und der ſchöne Tankred und ihre Ge-
noſſen und Nachfolger, ſie zogen alle völlig bartlos in den heiligen
Krieg; auf gleichzeitigen Bildern blickt aus der eng umſchließen-
den Kaputze des Panzerhemdes immer ein glattes Geſicht uns
entgegen. So iſt’s auch faſt hundert Jahre ſpäter auf den Bildern
der Herrad. Nur diejenigen, die wir bezeichnet haben, alſo die
höchſten Häupter der Chriſtenheit, tragen den verkürzten Vollbart.
Ihnen geſellt ſich aber ſeltſamer Weiſe noch eine ſonderbare Ge-
noſſenſchaft zu: es ſind die verachteten Juden und ſolche Leute,
deren Lebensweiſe verhinderte, daß ſie ihrem Geſicht irgend eine
Sorgfalt zuwenden konnten, wie die Räuber und Mörder von
Profeſſion. Auch die Wallfahrer, die ihrem Körper nur die noth-
wendigſte Pflege angedeihen laſſen durften und in linnenen Ge-
wändern und mit bloßen Füßen gingen, ließen Bart und Haar
wachſen. Ein Schnurrbart allein kommt nicht vor und iſt dem
Geſchmack dieſer Zeit eine Unmöglichkeit. Friedrich I. trägt ſeinen
rothen Bart in gekürzter Fülle ringsherum, wie uns das Stand-
bild von St. Zeno lehrt. Grade ſo trug ihn hundert Jahre früher
Rudolf von Schwaben, der Gegenkönig, nach der gleichzeitigen
Grabplatte zu ſchließen. Wieder hundert Jahre ſpäter zeigen die
Bilder der Liederhandſchriften dieſelbe Sitte: das glatte Geſicht
iſt die allgemeine Regel; nur bei einzelnen, wie es ſcheint, älteren
Sängern umzieht ein leichter Bart Wangen und Kinn; die Königs-
bilder von Heinrich VI. und Wenzel von Böhmen haben dazu
noch einen leiſen Schnurrbart aufzuweiſen. Auch dieſer verſchwin-

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[139/0157] 1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht. barbariſchen Schnurrbart noch eine Zeitlang bewahrt. Schon bei Heinrich II., dem Freund der Kirche, haben wir den gekürzten Vollbart unter die Rangeszeichen aufnehmen ſehen. Er war ur- ſprünglich das Vorrecht oder Abzeichen der Geiſtlichkeit, aber in der römiſchen Kirche ſeit Papſt Leo II. (816) abgelegt worden. Nun folgte im neuen Jahrtauſend auch die höhere Geiſtlichkeit wieder dem weltlichen Herrn, während die ganze übrige Welt, etwa die Würde des Alters ausgenommen, Laien und Prieſter, Ritter und Bürger und Bauer, das Geſicht glattgeſchoren trugen. Alle Kreuzfahrer, die Helden Gottfried von Bouillon, Raimund von Toulouſe, Boemund und der ſchöne Tankred und ihre Ge- noſſen und Nachfolger, ſie zogen alle völlig bartlos in den heiligen Krieg; auf gleichzeitigen Bildern blickt aus der eng umſchließen- den Kaputze des Panzerhemdes immer ein glattes Geſicht uns entgegen. So iſt’s auch faſt hundert Jahre ſpäter auf den Bildern der Herrad. Nur diejenigen, die wir bezeichnet haben, alſo die höchſten Häupter der Chriſtenheit, tragen den verkürzten Vollbart. Ihnen geſellt ſich aber ſeltſamer Weiſe noch eine ſonderbare Ge- noſſenſchaft zu: es ſind die verachteten Juden und ſolche Leute, deren Lebensweiſe verhinderte, daß ſie ihrem Geſicht irgend eine Sorgfalt zuwenden konnten, wie die Räuber und Mörder von Profeſſion. Auch die Wallfahrer, die ihrem Körper nur die noth- wendigſte Pflege angedeihen laſſen durften und in linnenen Ge- wändern und mit bloßen Füßen gingen, ließen Bart und Haar wachſen. Ein Schnurrbart allein kommt nicht vor und iſt dem Geſchmack dieſer Zeit eine Unmöglichkeit. Friedrich I. trägt ſeinen rothen Bart in gekürzter Fülle ringsherum, wie uns das Stand- bild von St. Zeno lehrt. Grade ſo trug ihn hundert Jahre früher Rudolf von Schwaben, der Gegenkönig, nach der gleichzeitigen Grabplatte zu ſchließen. Wieder hundert Jahre ſpäter zeigen die Bilder der Liederhandſchriften dieſelbe Sitte: das glatte Geſicht iſt die allgemeine Regel; nur bei einzelnen, wie es ſcheint, älteren Sängern umzieht ein leichter Bart Wangen und Kinn; die Königs- bilder von Heinrich VI. und Wenzel von Böhmen haben dazu noch einen leiſen Schnurrbart aufzuweiſen. Auch dieſer verſchwin-

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten01_1858/157>, abgerufen am 21.11.2024.